Der geheime Garten
meinte Dickon.
»Ich bin froh, daß du das getan hast, Weatherstaff«, sagte Colin. »Ich bin auch sicher, daß du unser Geheimnis hüten wirst.«
»Das werde ich, Sir«, antwortete Ben Weatherstaff. »Und für einen alten, kranken Mann wird es viel leichter sein, durch das Tor hereinzukommen.«
Mary hatte ihren kleinen Spaten unter den Baum ins Gras gelegt. Colin streckte seine Hand aus und nahm ihn auf. Ein seltsamer Ausdruck trat in sein Gesicht. Er begann, die Erde aufzulockern. Seine dünne Hand war schwach, aber als er sah, daß sie ihn alle beobachteten — Mary voll atemloser Spannung —, da stieß er den Spaten in den Boden und hob ein Stück davon heraus.
»Du kannst es! Du kannst es!« murmelte Mary. »Ich sage dir, daß du es kannst!«
Dickon schaute voll Neugier zu, aber er sagte kein Wort.
Ben Weatherstaff fragte interessiert, ob Colin vielleicht etwas pflanzen wolle. »Wenn du willst«, sagte er, »hole ich dir eine Rose in einem Topf.«
»Ja, bitte«, sagte Colin, während er weitergrub. »Aber schnell, schnell!«
Ben Weatherstaff vergaß seinen Rheumatismus. Auch Dickon nahm nun seinen Spaten und half Colin, das Loch zu graben. Mary holte eine Gießkanne. Als Dickon das Loch genügend erweitert hatte, fuhr Colin fort, in der lockeren Erde zu stochern. Er schaute zum Himmel auf, rot von der ungewohnten Anstrengung.
»Ich möchte sie pflanzen, ehe die Sonne ganz untergeht«, sagte er.
Mary hatte das Gefühl, daß die Sonne absichtlich ein bißchen länger als üblich schien. Ben Weatherstaff brachte die Rose aus dem Gewächshaus herbei. Er stampfte über das Gras, so schnell er nur konnte. Auch er war jetzt ganz aufgeregt. Er kniete bei dem Loch nieder und nahm die Rose aus dem Topf.
»Hier, mein Junge«, sagte er und drückte Colin die Blume in die Hand, »pflanze sie ein, wie ein König einen Baum pflanzt, wenn er zum erstenmal in ein neues Reich kommt.«
Die dünnen, weißen Hände zitterten ein wenig, und Colins Gesicht wurde noch röter, als er die Rose in die Erde bettete und festhielt, bis Ben die Erde um die Wurzeln festgedrückt hatte. Mary lag auf den Knien und stützte sich auf ihre Hände. Ruß war näher gekommen, um zu sehen, was da vor sich ging. Nuß und Schale schwatzten aufgeregt von einem Kirschbaum herunter.
»Jetzt ist sie gepflanzt«, sagte Colin. »Und die Sonne verschwindet gleich hinter der Mauer. Hilf mir auf, Dickon. Ich möchte stehen, wenn sie untergeht. Das gehört zum Zauber.«
Dickon half ihm, und der Zauberer — wer immer es sein mochte — verlieh Colin die Kraft, lachend auf seinen beiden Füßen zu stehen, während die Sonne am Horizont verschwand und damit den herrlichen Nachmittag beendete.
Zauberei
Doktor Craven hatte schon eine Zeitlang im Hause gewartet, als die Kinder endlich heimkamen. Er hatte sich sogar schon gefragt, ob es nicht vernünftiger sein würde, jemand hinauszuschicken und die Gartenwege abzusuchen. Als Colin wieder in seinem Zimmer war, untersuchte der Arzt ihn sorgfältig.
»So lange hättest du aber nicht draußen bleiben dürfen«, sagte er. »Du darfst dich nicht überanstrengen.«
»Ich bin überhaupt nicht müde«, sagte Colin. »Es hat mir gut getan. Morgen gehe ich vormittags und nachmittags aus.«
»Ich weiß nicht, ob ich das erlauben kann«, antwortete Doktor Craven. »Ich fürchte, es wäre nicht klug.«
»Es wäre nicht klug, wenn Sie versuchen würden, mich zurückzuhalten«, sagte Colin ernsthaft. »Ich werde ausgehen.«
Selbst Mary hatte schon herausgefunden, daß Colin überhaupt nicht wußte, wie roh und ungezogen die Art war, in der er seinen Mitmenschen Befehle erteilte. Er hatte sein Leben wie auf einer einsamen Insel verbracht. Er war dort König gewesen und hatte seine eigenen Gesetze erlassen und niemanden gehabt, mit dem er sich vergleichen konnte. Mary war ähnlich gewesen; doch seit sie in Misselthwaite lebte, hatte sie allmählich erkannt, daß ihre Manieren sehr zu wünschen übrigließen. Und nach dieser Entdeckung fand sie es natürlich interessant, mit Colin darüber zu sprechen. Sie saß und starrte ihn unverwandt an, nachdem Dr. Craven gegangen war. Sie wollte, daß er sie fragte, warum sie ihn anstarrte. Und das tat er dann auch.
»Warum guckst du mich so an?« fragte er.
»Doktor Craven tut mir leid«, sagte sie.
»Mir auch«, sagte er ruhig, aber offenbar nicht unzufrieden. »Er wird Misselthwaite nicht erben, wie er es gehofft hatte, weil ich nicht sterben werde.«
»Deswegen tut er
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