Der geheime Garten
daß er einmal auf seinen eigenen Füßen gestanden hatte.
»Ich bin sicher, es muß sehr viel Zauberei in der Welt geben«, sagte er eines Tages zu Mary, »doch die Leute wissen einfach nicht, wie so ein Zauber wirkt oder wie man es anstellt, daß er in Kraft tritt. Vielleicht genügt es schon, wenn man anfangs sagt, daß sich wunderbare Dinge ereignen werden, so lange bis man erreicht, daß sie wirklich eintreten. Das müßte sich durch ein Experiment herausfinden lassen.«
Als die Kinder am nächsten Morgen in den geheimen Garten gingen, schickte Colin nach Ben Weatherstaff. Ben kam so schnell er konnte. Unser Rayah stand auf seinen Füßen unter einem Baum. Er sah sehr großartig, aber auch sehr anmutig aus, und er lächelte.
»Guten Morgen, Ben Weatherstaff«, sagte er. »Ich möchte, daß ihr euch in einer Reihe aufstellt, du und Dickon und Mary. Stellt euch auf und hört zu, denn ich habe euch etwas Wichtiges zu sagen.« Die drei standen in einer Reihe und warteten. »Ich will ein wissenschaftliches Experiment unternehmen«, erklärte der Rayah. »Wenn ich erwachsen bin, werde ich bedeutende wissenschaftliche Entdeckungen machen, und dieser Versuch bildet den Anfang dazu.«
»Jawohl, Sir!« antwortete Ben Weatherstaff sofort, obwohl er in seinem ganzen Leben noch nie etwas von wissenschaftlichen Entdeckungen gehört hatte.
Mary erging es ebenso, doch soviel war ihr mittlerweile bewußt geworden, daß Colin, mochte er auch etwas verschroben sein, vieles aus Büchern kannte und daß er die Gabe besaß, andere Menschen zu überzeugen. Wenn er einen mit erhobenem Kopf aus seinen merkwürdigen Augen so eindringlich anschaute, dann war man geneigt, ihm die unwahrscheinlichsten Dinge zu glauben, obwohl er erst knapp elf Jahre alt war. In diesem Augenblick strahlte er eine noch größere Überzeugungskraft aus, weil er sich anschickte, eine ebensolche Rede zu halten, wie Erwachsene es taten — ein faszinierendes Gefühl!
»Bei den großen wissenschaftlichen Entdeckungen, die ich machen werde, geht es um Zauberei«, fuhr er fort. »Ein Zauber ist etwas Großartiges, und außer einigen Leuten in alten Büchern weiß kaum jemand etwas darüber — abgesehen von Mary vielleicht, denn sie ist in Indien geboren, wo es Fakire gibt. Mag sein, daß Dickon sich auch ein wenig in magischen Dingen auskennt, aber vielleicht ist ihm das gar nicht bewußt. Er versteht es, Tiere und Menschen in seinen Bann zu ziehen. Ich hätte ihm niemals erlaubt, zu mir zu kommen, wenn er nicht diese Gabe besäße. Und was für Tiere gilt, gilt für Jungen ebenso, denn zwischen beiden gibt es keinen großen Unterschied. Ich bin sicher, daß allen Dingen ein Zauber innewohnt, nur können wir ihn nicht verstehen und in unsere Dienste nehmen wie den elektrischen Strom, Pferde oder die Dampfkraft.«
Diese Worte machten einen solchen Eindruck auf Ben Weatherstaff, daß er ganz aufgeregt wurde und nicht länger still stehen bleiben konnte. »Jawohl, Sir!« sagte er und straffte sich merklich.
»Als Mary diesen Garten entdeckte, machte er einen vollkommen leblosen Eindruck«, fuhr der Redner fort. »Dann begann irgend etwas, die Pflanzen aus dem Boden zu treiben und aus dem Nichts etwas zu schaffen. Von einem Tag auf den anderen gab es etwas vorher nicht Dagewesenes. Ich habe mich früher nie darum gekümmert, wie die Dinge entstehen, und das hat meine Neugier geweckt. Wissenschaftler sind immer neugierig, und ich werde auch ein Wissenschaftler, das steht fest. Ich frage mich fortwährend >Was ist das? Welche Kraft ist hier am Werk?< Irgend etwas muß es da geben. Ich weiß nicht, wie ich es bezeichnen soll, also nenne ich es Zauberei. Ich habe noch nie die Sonne aufgehen sehen, so wie Mary und Dickon, und nach allem, was sie mir davon erzählt haben, bin ich sicher, daß auch dabei Zauberei im Spiel ist. Irgend etwas schiebt und zieht die Sonne nach oben. Seit ich hier im Garten bin, habe ich mir manchmal den Himmel durch die Blätter der Bäume hindurch angesehen und dabei ein unerklärliches Wohlgefühl gespürt, als schiebe und ziehe auch in meiner Brust etwas und lasse mich schneller atmen. Der Zauber hört niemals auf zu schieben und zu ziehen und Dinge aus dem Nichts zu erschaffen. Alles ist durch Zauberei entstanden, Blätter und Bäume, Blumen und Vögel, Dachse, Füchse, Eichhörnchen und auch die Menschen. So muß es überall um uns herum sein, in diesem Garten, eben überall. Der Zauber, der über diesem Garten liegt, hat mir
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