Der geheime Garten
mir natürlich auch leid«, sagte Mary, »aber ich dachte an etwas anderes. Daß es für ihn schrecklich gewesen sein muß, zehn Jahre lang nett zu einem Jungen zu sein, der immer unhöflich ist.«
»Bin ich unhöflich?« fragte Colin ungerührt.
»Sicher«, antwortete Mary, während sie ehrlich darüber nachdachte. »Nie hat jemand gewagt, etwas zu tun, das dir nicht gefiel — weil du doch sterben würdest und all das. Du warst ja so ein armes Ding!«
»Aber jetzt«, verkündete Colin trotzig, »jetzt will ich kein armes Ding mehr sein. Ich will nicht, daß die Leute das denken. Heute nachmittag habe ich auf meinen eigenen Füßen gestanden.«
»Du hast immer deinen Willen durchgesetzt, und das hat dich so verschroben gemacht.«
Colin hob den Kopf und zog die Stirn kraus.
»Bin ich verschroben?« fragte er.
»Ja«, sagte Mary, »sehr sogar. Aber du brauchst jetzt nicht zornig zu werden«, fügte sie gelassen hinzu. »Ich war genau wie du, und Ben Weatherstaff ist es auch. Aber ich bin anders geworden, seitdem ich die Menschen lieben gelernt und den Garten gefunden habe.«
»Ich will nicht verschroben sein. Ich werde es mir abgewöhnen.«
Wieder legte Colin die Stirn in Falten. Dann aber begann er zu lächeln. »Wenn ich jeden Tag in den Garten gehe, werde ich aufhören, wunderlich zu sein. Dort ist ein Zauber am Werk, ein guter Zauber, weißt du. Ich bin sicher, daß es so ist.«
»Ich weiß es«, sagte Mary.
»Selbst wenn es kein Zauber ist«, sagte Colin, »können wir tun, als ob es so wäre. Irgend etwas ist dort — irgend etwas.«
Sie nannten es Zauber, und tatsächlich schien es so zu sein in den nun folgenden strahlenden Monaten. Was sich da nicht alles in dem Garten ereignete! Als erstes schienen die grünen Spitzen, die aus der Erde, dem Gras, den Beeten, ja sogar aus den Ritzen der Mauer sprossen, immer zahlreicher zu werden. Aus den Trieben entwickelten sich Knospen, die sich langsam entfalteten und sich blau, gelb oder rosa färbten.
In jener unbeschwerten Zeit, in der der Garten noch regelmäßig gepflegt wurde, hatte Ben Weatherstaff dafür gesorgt, daß buchstäblich jeder Spalt und jeder Winkel begrünt und verschönen wurde. Er hatte höchstpersönlich Mörtel aus den Fugen der Mauern gekratzt und sie mit etwas Erde gefüllt, so daß wunderschöne Kletterpflanzen daran emporranken konnten. Im Gras zeigten sich büschelweise Iris und weiße Lilien, und die Nischen und Lauben waren bald übersät mit den blauen und weißen Blüten von Rittersporn, Akelei und Glockenblumen.
Auch die Saat, die Dickon und Mary ausgeworfen hatten, ging auf, als hätten sich Feen aus dem Märchen darum gekümmert. Dutzende von Mohnblumen in allen Farben wiegten ihre Köpfe im Wind. Sie hatten in all den Jahren immer wieder neu ausgetrieben, als sei das ganz selbstverständlich, und schienen sich jetzt verwundert zu fragen, wer wohl die Neuankömmlinge seien, die da plötzlich im Garten ihr Wesen trieben. Den prachtvollsten Anblick aber boten die Rosen. Sie reckten ihre Köpfchen aus dem Gras, rankten rund um die Sonnenuhr, wuchsen an den Baumstämmen empor und ließen ihre Ausläufer von den Ästen und Zweigen herabhängen. Sie erklommen die Mauern und überzogen sie mit langen Girlanden und Vorhängen aus zahllosen Blüten. Von Tag zu Tag, ja von einer Stunde zur anderen wurden es mehr: Zuerst erschienen junge, frische Blätter, und dann bildeten sich Knospen — winzig klein zunächst, die anschwollen, als wohne ihnen eine magische Kraft inne, und schließlich aufbrachen und wohlriechende Blütenkelche entfalteten, die die Luft mit ihrem lieblichen Duft erfüllten.
Colin beobachtete alles. Jeden Morgen wurde er ausgefahren, und an Tagen, da es nicht regnete, verbrachte er viele Stunden im Garten. Er liebte auch die trüben Tage. Dann lag er im Gras und sah die Dinge wachsen, wie er sagte. Wenn man lange genug beobachtete, erklärte er, könne man sehen, wie sich die Knospen öffneten. Man könne auch die Insekten bei ihrer Arbeit betrachten. Manche machten wichtige Besorgungen und trugen winzige Teilchen von Stroh oder Federn oder Nahrung umher, andere kletterten an den Grashalmen hoch, von deren Spitze aus sie die Gegend erforschen konnten. Ameisen hatten ihre Art, Bienen, Frösche, Vögel, alle hatten ihre Art. Für Colin war es eine ganz neue Welt. Doch nicht nur in diesen aufregenden Entdeckungen zeigte sich der Zauber, der im Garten am Werk war. Was Colin am meisten zu denken gab, war die Tatsache,
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