Der geheime Garten
Das Licht fiel durch die Blätter genau auf ihn herab.
»Wir wollen jetzt beginnen«, sagte er. »Sollen wir uns hin- und herwiegen wie die Derwische, Mary?«
»Ich kann mich nicht hin- und herwiegen«, entgegnete Ben Weatherstaff, »ich habe Rheuma.« »Der Zauber wird dich heilen«, gab ihm Colin zur Antwort, »wir warten damit, bis er seine Wirkung getan hat. Wir werden zunächst nur singen.«
»Ich kann auch nicht singen«, sagte Ben Weatherstaff etwas unwirsch, »ich hab's ein einziges Mal versucht, und da haben sie mich aus dem Kirchenchor hinausgeworfen.«
Niemand lachte. Alle befanden sich in einer viel zu ernsten Stimmung. Colin verzog nicht eine Miene. Er dachte an nichts anderes als den Zauber.
»Dann singe ich allein«, sagte er und fing an. Er sah dabei aus wie ein überirdisches Wesen. »Die Sonne scheint — die Sonne scheint. Das ist der Zauber. Die Blumen wachsen — die Wurzeln strecken sich. Das ist der Zauber. Leben und stark sein — das ist der Zauber. Er ist in mir. Er ist in uns allen. Er ist in Ben Weatherstaffs Kreuz. Zauber! Zauber! Komm und hilf!«
Er sang das viele Male, nicht gerade tausendmal, aber doch ziemlich oft. Mary hörte ganz gebannt zu. Ihr war, als sei dies alles befremdend und schön zugleich, und sie wünschte sich, Colin möge nie aufhören zu singen. Ben Weatherstaff begann zu dösen. Ihm war, als träume er einen recht angenehmen Traum. Das Gesumm der Bienen auf den Blüten ergab zusammen mit Colins Gesang eine wohlige, einschläfernde Geräuschkulisse. Dickon saß noch immer im Schneidersitz, eine Hand auf dem Rücken des Lämmchens. Das Kaninchen in seinem Arm war eingeschlafen. Die Krähe Ruß hatte eines der Eichhörnchen vertrieben, saß auf Dickons Schulter und schmiegte sich an ihn. Auch dem Vogel fielen die Augen zu. Schließlich beendete Colin seinen Gesang.
»Ich werde jetzt einen Rundgang im Garten machen — zu Fuß!«, verkündete er laut. Ben Weatherstaff schreckte auf, und auch die anderen erhoben sich.
Sie bildeten einen Zug. Es sah aus wie eine kleine Prozession. An der Spitze ging Colin, eingerahmt von Dickon und Mary. Hinter ihnen ging Ben Weatherstaff allein, dann folgten die Tiere, das Lamm und der Fuchs, das weiße Kaninchen. Die Krähe Ruß bildete den feierlichen Abschluß.
Die Schar bewegte sich langsam, aber mit Würde. Alle paar Meter machten sie eine Pause. Colin stützte sich auf Dickons Arm. Dann ließ er ihn wieder los und machte ein paar Schritte ohne jede Hilfe. Er hielt den Kopf hoch. Er gab nicht auf, ehe sie den ganzen Garten abgeschritten hatten.
»Ich hab's geschafft, ich hab's geschafft« triumphierte er. »Was wird Doktor Craven sagen?« meinte Mary. »Er wird überhaupt nichts sagen«, antwortete Colin, »denn er wird nichts erfahren. Niemand darf davon wissen, solange ich nicht stark genug bin, um zu laufen wie andere Jungen. Ich werde jeden Tag in meinem Rollstuhl heranfahren und auch darin zurückkehren. Ich möchte nicht, daß die Leute erneut hinter meinem Rücken flüstern. Ich will nicht, daß mein Vater davon erfährt, bevor der Versuch ganz gelungen ist. Wenn er eines Tages nach Misselthwaite zurückkommt, werde ich ganz einfach in sein Zimmer gehen und sagen: Da bin ich. Ich bin wie andere Jungen. Mir geht es gut, und ich werde wachsen, bis ich ein Mann bin. «
»Er wird denken, er träumt«, rief Mary. »Er wird seinen Augen nicht trauen.«
Colin strahlte vor Stolz. Er hatte sich überwunden. Er glaubte nun an sich selbst, an seine eigene Willenskraft. Das war der Sieg! Was ihn am meisten in seinem Willen bestärkte, das war der Gedanke an das Gesicht seines Vaters, wenn er seinen Sohn sehen würde, stark und gesund wie die Söhne anderer Väter.
»Er wird seinen Augen glauben müssen«, sagte er. »Ich möchte stark werden wie ein Athlet. Und ich möchte ein großer Entdecker werden.«
»In einer Woche wirst du boxen«, sagte Ben Weatherstaff. »Du wirst den Boxweltmeister besiegen.«
Colin sah ihn streng an.
»Weatherstaff«, sagte er, »du wirst respektlos. Du darfst dir keine Freiheiten herausnehmen, nur weil du in das Geheimnis eingeweiht bist. Ich werde nie ein Preisboxer werden. Aber ich werde ein Wissenschaftler, ein Entdecker werden. Das ist mein Ziel.«
»Verzeihung, Sir!« antwortete Ben und legte militärisch die Hand an die Mütze. »Ich hätte wissen sollen, daß das eine ernste Sache ist«, sagte er, zwinkerte aber mit den Augen. Man sah ihm an, daß er sich köstlich amüsierte.
Laßt
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