Der geheime Name: Roman (German Edition)
von Mora? »Wer sollte denn sonst noch bei ihm gewesen sein?« Sie versuchte, nicht allzu scheinheilig zu klingen.
Neue Tränen traten in die Augen ihrer Mutter, lösten sich und liefen über ihr Gesicht. »Hast du dort einen jungen Mann gesehen? Einen mit schwarzen Haaren und brauner Haut? Der etwa so alt ist wie du?«
Fina wich zurück, starrte ihre Mutter an. »Was weißt du über Mora?« Es rutschte ihr heraus.
Das Gesicht ihrer Mutter hellte sich auf. »Also war er dort?«
Fina blickte hastig nach draußen. Susanne durfte nicht bemerken, wie wichtig er ihr war. Sie versuchte, so ruhig wie möglich zu sprechen: »Ja, er war dort.«
Ihre Mutter lachte auf, ein kurzes Heulen mischte sich in den Laut.
Fina starrte sie an: »Was weißt du über ihn?«
Susanne schwieg, eine ganze Weile. Schließlich räusperte sie sich und sprach mit sicherer Stimme: »Ich hab den Jungen in meinen Träumen gesehen. Ich habe mich immer gefragt, ob es ihn wirklich gibt.«
Fina schluckte. Ihre Mutter log! Deshalb brauchte sie so lange, um zu antworten. Aber wenn sie erst einmal so weit war, kamen ihr die Lügen wirklich glatt über die Lippen. Fina spürte, wie sich ihre Nase verächtlich kräuselte.
»Deine Oma hat gesagt, du wärst verliebt. Kurz bevor wir gefahren sind.«
Finas Atem stockte. Jetzt fand ihre Mutter heraus, dass sie fliehen wollte. Die erfahrene Lügnerin enttarnte die Anfängerin.
»Ist es der Junge?« Die Stimme ihrer Mutter fing an zu zittern. »Liebst du ihn?«
Fina schloss die Augen. Susanne war doch nicht diejenige, die dieses Gespräch kontrollierte. Es ging ihr nicht darum, Finas Flucht zu enttarnen. Susannes Gedanken waren einzig und allein bei dem Jungen mit der braunen Haut. Plötzlich musste Fina wieder an die Roma-Jugendlichen denken, an den Fünfzigeuroschein, den ihre Mutter ihnen gegeben hatte, an die Tränen auf ihrem Gesicht.
Sie schien etwas über Mora zu wissen. Etwas, was sie damals schon gewusst hatte.
Fina spürte den Drang, sie anzuschreien, die ganze Wahrheit aus ihr herauszupressen, jetzt gleich.
Doch wenn ihre Mutter erfuhr, was Mora ihr bedeutete, konnte sie ihre Flucht vergessen. Also setzte sie eine möglichst gleichgültige Miene auf. Gute Lügner stotterten nicht. »Zuerst gefiel er mir. Weil er ziemlich hübsch ist. Das hab ich Oma Klara wohl erzählt.« Fina kniff die Augen zusammen, zwang sich, ihrer Mutter ins Gesicht zu lügen. »Aber er ist so verrückt wie eine Kanalratte. Genau die richtige Begleitung für einen Mädchenschänder.«
Ihre Mutter keuchte auf, Tränen schossen in ihre Augen. Nur für eine Sekunde konnte Fina es sehen, bevor Susanne aus dem Zimmer stürzte.
Fina taumelte zurück, stieß gegen die Fensterbank und lehnte sich gegen die Scheibe. Was war das gerade gewesen? Warum heulte ihre Mutter? Wegen Mora? Oder wegen ihr? Weil sie in den Händen eines Mädchenschänders gewesen war?
Fina drehte sich zum Fenster, begegnete ihrem blassen Spiegelbild in den Butzenscheiben. Sie hatte Mora verleumdet, hatte eine furchtbare Lüge über ihn erfunden. Wer einmal lügt, muss immer lügen …
Ihr Spiegelbild schüttelte den Kopf, bewegte schließlich die Lippen: Manchmal muss man lügen, um den zu retten, den man liebt.
Fina schloss die Augen, legte ihre Hand an die Fensterscheibe und hauchte dagegen. »Es tut mir so leid, Mora.«
Ein seltsamer Schwindel wehte durch ihren Kopf, etwas, das sich fremd anfühlte, so, als wäre sie nicht länger allein in ihren Gedanken. Ein zarter Luftzug streifte ihre Haare. »Mir tut es auch leid.«
Fina riss die Augen auf. Moras Gesicht war vor ihr, schimmerte im Fenster, als stünde er auf der anderen Seite. Ein blutiger Striemen zog sich über seine Wange, wurde von einem matten Lächeln zur Seite geschoben.
Finas Herz raste. Das fremde Gefühl wurde immer deutlicher, immer unheimlicher. Auch wenn Mora derjenige war, den sie sehen konnte, mit dem sie sprach – noch jemand anderes war bei ihnen. Sie konnte fühlen, wie die fremde Macht nach ihrer Seele griff, wie sie ihre Schwäche nutzte, um ihr die Bilder zu zeigen.
Doch Fina ließ es willig geschehen. Sie wollte bei Mora sein, ganz egal unter welchen Bedingungen.
Er hob die Hand und legte sie gegen ihre. Sein Mund näherte sich und wollte sie küssen.
Fina beugte sich vor, berührte das kalte Glas und zuckte zurück.
Moras Kopf fiel nach vorne. Für einen Moment sah sie nur seine schwarzen Haare. Sein Atem keuchte. Sein Kopf rollte hin und her, während er
Weitere Kostenlose Bücher