Der geheime Name: Roman (German Edition)
nicht, dass du von einer Verrückten großgezogen wirst.«
»Als er mir das gesagt hat, bin ich bei Nacht und Nebel mit dir geflohen.«
Fina fuhr herum, betrachtete das Gesicht ihrer Mutter von der Seite. Tränen liefen über ihre Wangen. Susanne wischte sie beiseite. »Das war der Anfang von unserer Flucht.«
Fina schloss die Augen. Tausend Bilder ihrer Kindheit wirbelten an ihr vorbei, von ihrer Flucht und den vielen Orten, an denen sie gelebt hatte, von den Erklärungen ihrer Mutter, und dem, was sie über ihren Vater erzählt hatte. Nur langsam begriff sie, dass zumindest ein Fünkchen Wahrheit darin gelegen hatte.
Ganz langsam öffnete sie die Augen und sah ihre Mutter wieder an. »Also sind wir tatsächlich vor ihm geflohen?« Sie zeigte auf ihren Vater, drehte sich zu ihm um. Sie versuchte, die Bilder neu zu ordnen, um zu begreifen, welche Rolle er tatsächlich gespielt hatte. Auch wenn es ihr noch nicht so ganz gelang – je mehr sie darüber nachdachte, desto deutlicher spürte sie, dass er nicht länger der Böse war. Er war der Sympathieträger der Geschichte.
»Ja, in den ersten vier Jahren seid ihr vor mir geflohen.« Ihr Vater setzte die Geschichte fort: »Aber dann fing Rumpelstilzchen an, auch in meinen Träumen zu erscheinen und seinen Besitz einzufordern. Ich habe Kontakt zu Susannes Eltern aufgenommen, in der Hoffnung, dass sie wussten, wo sie war. Aber ihre Eltern konnten mir auch nicht weiterhelfen. Erst nach einigen Monaten haben sie mir gesagt, Susanne hätte sich gemeldet. Sie haben mir ihre Telefonnummer gegeben, und ich habe mich bei ihr entschuldigt.«
Susanne scharrte nervös mit ihrer Schuhspitze über den Boden. »Das war damals, als mein Vater todkrank war. Ich hätte wohl nie davon erfahren, wenn Rumpelstilzchen es nicht in meinem Traum erwähnt hätte.«
Fina drehte sich zu ihrer Mutter um. Etwas an ihrer Geschichte war unlogisch. Jahrelang hielt sie sich von der Lüneburger Heide fern – und ausgerechnet von Rumpelstilzchen ließ sie sich wieder anlocken. »Hattest du keine Angst, dass er mich holt, während wir dort sind?«
Susanne blinzelte. »Doch. Wahnsinnige Angst. Aber ich wollte meinen Vater wenigstens noch einmal sehen. Wir waren nur zwei Tage da, und dich hab ich in der Zeit nicht aus den Augen gelassen. Du durftest nicht in den Garten, und ich hab dafür gesorgt, dass alle Fenster und Türen verriegelt waren. Ich bin mir bis heute sicher, dass er am Waldrand stand und nur darauf gewartet hat, dass du in den Garten laufen würdest.«
Fina schauderte. Sie erinnerte sich an ihre Angst vor dem Wald, die sie überfallen hatte, sobald sie bei ihrer Großmutter angekommen war. Hatte Moras Herr sie auch dieses Mal vom Waldrand aus beobachtet?
Fina versuchte, es zu vergleichen: wie es damals gewesen war, ob sie die Bedrohung als Kind schon gespürt hatte. Sie erinnerte sich an die seltsame Stimmung in den winterdunklen Räumen. Doch damals war es ihr gemütlich vorgekommen, sie hatte sich zu Hause gefühlt. Erst als sie älter geworden war, hatte sich eine beklemmende Note in ihre Erinnerungen geschlichen. Sie war eingesperrt gewesen. Deshalb.
Fina blickte wieder nach draußen, suchte den Schnee nach blauen Spuren ab. »Und später? Hat er je versucht, mich zu holen?«
Ihre Mutter antwortete nicht. Erst nach einer ganzen Weile fing sie an, etwas zu rezitieren: »Dort wo er sie findet, dort stirbt der Lavendel, das Lila vergeht, der Sommer verweht. Bald kommt er und holt sie, dann ist es zu Ende. Ihr Versprechen besteht, ihre Tochter bald geht.«
Fina schauderte. »Was ist das?«
Ihre Mutter sah sie an. »Das hat er mir in der Nacht gesagt, bevor ich mit dir aus der Provence fliehen wollte. Immer, wenn wir an einem neuen Ort waren, ist er mir drei Mal im Traum erschienen. Beim ersten Mal hat er gesagt, dass er dich finden wird. Beim zweiten Mal hat er behauptet, dass er weiß, wo er dich finden wird. Und beim dritten Mal hat er stets ein Gedicht vorgetragen, mit dem er mir bewiesen hat, dass er unseren Wohnort kannte. Das war jedes Mal der Grund, warum wir umgezogen sind.«
Fina atmete scharf ein. Wenn er ihr solche Gedichte vorgetragen hätte, wäre sie vielleicht auch freiwillig nach Neuseeland geflohen. »Aber woher weißt du, dass er nicht blufft? Selbst wenn er weiß, wo ich bin – vielleicht hat er das auch nur aus unseren Träumen?«
Ihre Mutter zuckte die Schultern. »Ich wusste nie, ob er blufft. Aber hätte ich es ausprobieren sollen?«
Fina dachte an
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