Der geheime Name: Roman (German Edition)
Echo durch den Wald hallen. Sie klang schön, so warm, dass Mora ihren Klang fühlen konnte.
Sie rief noch einmal nach dem Hund, kam langsam über die Wiese und blieb ein paar Meter entfernt stehen. »Rübezahl! Komm her!« Ihre Stimme vibrierte, ihr Blick huschte über die Schatten, die Mora umgaben.
Mora wurde ganz still. Sie sollte ihn nicht hören, nicht einmal seinen Atem, damit ihre Angst nicht noch größer wurde. Er blickte in ihr Gesicht, auf ihre hellen goldfarbenen Haare. Endlich konnte er sie ansehen, endlich konnte er ihr Bild in seine Erinnerung aufnehmen. Ihre Augen waren braun, nicht so riesig wie die des Herrn und von geschwungenen Wimpern umrahmt. Auch ihre Nase und ihr Mund bildeten weiche Linien, ließen sie so zart erscheinen, dass er darum fürchtete, ihr weh zu tun. Sie war das Schönste, was er je gesehen hatte.
Im nächsten Moment hörte der Hund auf ihren Befehl und ließ sich von ihr ans Halsband nehmen. Sie zerrte ihn mit sich, drehte sich um und verschwand wieder im Haus.
Moras Beine fühlten sich schwach an. Er lehnte sich zurück gegen die Buche, schloss die Augen, um ihr Gesicht noch einmal zu sehen. Es fing bereits wieder an zu verblassen. Aber es war da, in seiner Erinnerung.
Der Hunger in seinem Magen brannte. Er musste sich endlich von ihr lösen, musste wieder zu seiner Höhle zurückkehren und sein Leben weiterleben.
Mora gab sich einen Ruck, stieß sich von dem Baum ab und rannte zurück in sein Moor.
* * *
Fina wagte sich nicht noch einmal in den Wald. Sie wollte das seltsame Moor nicht länger ergründen, wollte nicht wissen, ob sie das Flüstern und die Schritte tatsächlich gehört hatte. Von einem Tag auf den anderen war auch ihr Bewegungsdrang verschwunden und kehrte sich ins Gegenteil. Sie wollte sich verkriechen.
Der Herbst wurde immer düsterer, die Regentage häuften sich, und so blieb sie schließlich fast immer in der Mühle. Sie versuchte, endlich die ersten Bewerbungen fertigzustellen. Doch sie fühlte sich lustlos. Sie konnte noch nicht fort von hier. Sie war gerade erst angekommen.
Abgesehen davon bekam sie allmählich ein schlechtes Gewissen: Sie wollte nicht länger von dem spärlichen Einkommen ihrer Großmutter leben. Sie musste selbst etwas verdienen, musste ihre Oma auf irgendeine Weise unterstützen. Klara arbeitete noch immer als Haushaltshilfe und Putzfrau für einige Dorfbewohner, und Fina begleitete sie schließlich dorthin. Immer häufiger bekam sie eigene Aufgaben, die körperlich zu schwer für ihre Oma waren. Sie schnitt die Hecke eines Gartens, half einem Bauern bei der Kartoffelernte und mistete Ställe aus. Die schwere Arbeit gefiel ihr, weil sie ihren Körper forderte und ihre Gedanken von allem anderen ablenkte. Abends war sie so müde, dass sie sich kaum noch zu ihren Bewerbungen aufraffen konnte. Stattdessen ließ sie sich von ihrer Großmutter das Stricken beibringen.
Doch je diesiger und trüber es draußen wurde, desto häufiger glitt ihr Blick aus dem Fenster zum Waldrand hinüber. Immer häufiger fragte sie sich, was dort auf sie wartete, warum sie sich vom ersten Moment an vor dem Wald gefürchtet hatte – und wieso der Moorgeruch sie auf so magische Weise anzog. Immer noch. Jedes Mal, wenn sie nach draußen ging.
* * *
Fina wollte nicht aufwachen, sie wollte hierbleiben, in ihrem Traum, an dem Ort, an dem sie zu Hause war. Doch es war bereits zu spät. Die Erinnerung an das, was gerade noch geschehen war, trieb in die Dunkelheit davon.
Zurück blieb ein sanfter Schmerz, der durch Finas Brust pulsierte. Ein wehmütiger Schmerz, wie von einem Abschied.
Jemand war bei ihr gewesen, noch vor wenigen Sekunden! Fina wusste es so sicher, wie sie zu ihm zurückwollte.
Sein Geruch haftete noch in ihrer Nase.
Fina riss die Augen auf, starrte in ihr Zimmer und wusste für einen Moment nicht, wo sie war.
Sie war in der Lüneburger Heide – und der Geruch in ihrer Nase hatte etwas zu bedeuten. Sie kannte ihn! Erst vor kurzem hatte sie ihn …
Das Moor! Es war die salzige Note, die sie im Moor wahrgenommen hatte.
Hastig sprang sie aus dem Bett. Ganz egal, welche Angst sie vor dem Wald hatte, ganz egal, ob sie tatsächlich fremde Schritte im Moor gehört hatte – sie musste dorthin!
Endlich hatte sie eine Spur, woher ihr Traum stammen könnte.
Sie blickte aus ihrem Fenster. Draußen war es noch fast dunkel. Falls die Sonne bereits aufgegangen war, war an dem grau verhangenen Himmel nichts von ihr zu sehen.
Fina zog sich
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