Der geheime Name: Roman (German Edition)
ihrer Großmutter auf, zog sich eine Trainingshose und den warmen Wollpulli an, den sie in der Provence gekauft hatte, und joggte mit langen Schritten hinter dem Haus in den Wald. Sie rannte so schnell, dass ihr keine Zeit blieb, über ihre Furcht nachzudenken. Kühl und angriffslustig wehte der Wind um ihr Gesicht. Mit jedem Ausatmen stieß sie Atemwölkchen aus ihrem Mund und beobachtete, wie sie von ihrem Gesicht fortwehten und sich in der kalten Luft auflösten.
Wie lange war es her, dass sie so etwas gesehen hatte?
Fina nahm den erstbesten Weg, der sie tiefer in den Wald hineinführte. Mit schnellen Schritten rannte sie bergab, während die Bäume um sie herum immer dichter beieinanderstanden. Weiches Gras dämpfte ihre Schritte, auch der Gesang der Vögel schwieg an diesem grauen Morgen, bis nur noch der Rhythmus ihres Atmens an ihre Ohren drang.
Mit jedem Schritt gefiel ihr die Dunkelheit des Waldes besser, und sie fing an, sich in der Stille geborgen zu fühlen. Der Wald schien einen düsteren Teil in ihr zu wecken, der viel zu lange geschlummert hatte.
Ein seltsamer Geruch wehte ihr schließlich entgegen, eine Mischung aus welkendem Laub und feuchtem Moos, aber nicht nur. Eine salzige Note versteckte sich darin, fast so wie die Brise eines weit entfernten Meeres.
Fina spürte, wie der Geruch sie anzog, wie sie ihm folgen wollte. Mit jedem Atemzug schien die salzige Note darin stärker zu werden, mit jedem Schritt wurde Fina schneller, um dem Geruch endlich näher zu kommen. Sie wollte wissen, was es war.
Fina schauderte. Der Geruch erinnerte sie an etwas – fast so, als würde sie ihn kennen, als wäre er …
Als wäre er etwas, das sie verloren hatte!
Immer schneller rannte sie. Ihr Atem keuchte, ihr Puls raste im Takt ihrer Schritte – aber sie musste ankommen, musste diesen Geruch ergründen, bevor er sich mit dem Wind verflüchtigte.
Der Weg unter ihren Füßen wurde immer schmaler, das Gras immer höher, bis sie nicht mehr sicher war, ob es noch ein Weg war oder nur noch ein Wildpfad. An manchen Stellen schimmerten die Spuren wilder Tiere in der dunklen Erde. Schmale Birken und gedrungene Kiefern wuchsen kreuz und quer durcheinander, umgestürzte Stämme vermoderten zwischen hohen Gräsern, und an den tiefer gelegenen Stellen schimmerten dunkle Tümpel und Pfützen, aus denen abgestorbene Bäume hervorstaken.
Schließlich verschwand auch der Pfad, dem sie folgte, doch der seltsame Geruch zog sie weiter. Fina sprang über Baumstämme hinweg, versuchte, die Pilze nicht zu zertreten, die vor ihren Füßen auftauchten, und bemerkte, wie sich der Boden veränderte. Mehr und mehr wurden die Gräser von einer dichten Moosdecke abgelöst, auf der Finas Schritte ein matschendes Geräusch erzeugten.
Keuchend blieb sie stehen. Vor ihr zogen neblige Schwaden durch den Wald, bedeckten die dunklen Tümpel mit weißen Schleiern, als wollten sie etwas verbergen. Finas Füße versanken im Moos, eine Pfütze drückte sich daraus hervor und sickerte in ihre Schuhe.
Fina schrie auf, sprang zur Seite, nur um dort auf die gleiche Weise im Moos zu versinken. Hastig sprang sie ein paar Schritte weiter und suchte Halt auf den Wurzeln einer alten Birke, die aus dem feuchten Untergrund ragten.
Erst jetzt fiel ihr auf, dass der seltsame Geruch überhandgenommen hatte, etwas Dunkles, Schweres hatte sich zwischen die salzige Note gelegt und erfüllte die Luft so deutlich, dass sie ihn endlich erkennen konnte: Es war der moderige Geruch eines Moores, die langsame Fäulnis unzähliger Pflanzen – und versunkener Tiere.
Fina fröstelte. Der Geruch erinnerte sie an etwas. Aber woran? Er wollte sie noch immer zu sich ziehen, wollte sie dazu bringen, immer weiter in das Moor hineinzulaufen.
Fina klammerte sich an den Stamm der Birke. Wie konnte ein Geruch derartige Macht besitzen?
Plötzlich hörte sie etwas! Ein schmatzendes Geräusch!
Fina starrte in die Richtung, aus der es kam. Doch sie konnte nichts sehen, was das Geräusch hervorbrachte.
Das schmatzende Geräusch setzte sich fort, näherte sich in einem gleichmäßigen Rhythmus. Wie die Schritte eines Menschen in diesem sumpfigen Untergrund!
Fina hielt die Luft an.
Das schmatzende Geräusch der Schritte verstummte, nicht weit von ihr entfernt. Auf einmal kam es ihr vor, als würde jemand atmen, dort drüben, auf einer Erhebung zwischen zwei Moortümpeln. Aber es war noch immer niemand zu sehen.
Finas Hände zuckten, sie wollte davonlaufen! Aber sie konnte
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