Der geheime Name: Roman (German Edition)
sich nicht rühren.
Auf einmal hallte etwas durch den Wald, wie das Flüstern einer Stimme, das viel zu leise war, um es zu verstehen. Nur zwei Worte fingen sich in der Herbstluft und drangen zu ihren Ohren vor. »… ein Weibchen.«
Fina schrie auf. Sie stieß sich vom Baum ab und rannte über den Trampelpfad zurück, den sie gekommen war. Doch aus dieser Richtung sah das bewaldete Moor ganz anders aus. Es dauerte nur Sekunden, ehe sie ihre Richtung verloren hatte und nicht mehr wusste, ob sie nach rechts oder links laufen musste. Sie sprang um Binsen und Gräser herum. Mit jedem Schritt spritzte Schlamm an ihre Jogginghose und besprenkelte das Beige mit einer Mischung aus Torfbraun und Moosgrün.
Urplötzlich erreichte Fina einen Weg, einen befestigten Pfad, der durch das Moor führte. Mit einem Satz sprang sie darauf und blieb keuchend stehen, stützte sich vornüber auf die Knie und atmete so heftig, dass ihre Lungen brannten. Das war nicht der Weg, auf dem sie gekommen war, aber er führte in die richtige Richtung.
Der salzige Duft wehte zu ihr herüber, das schmatzende Geräusch schlich hinter ihr durch den Wald.
Fina lief weiter. Im nächsten Moment rannte sie. Schneller als zuvor, schneller als jemals in ihrem Leben. In rasendem Tempo ließ sie das Moor hinter sich. Wie im Zeitraffer schienen die Minuten zu vergehen, bis sie aus dem Wald herauskam und die Mühle vor sich sah.
* * *
Mora konnte nicht aufhören, das Weibchen zu beobachten. Er folgte ihr durch den Wald, bis ganz an den Rand seines Tarnkreises und sah ihr nach, als sie sein Gebiet verließ. Sie verschwand in einer Behausung der Menschen, in einem Gemäuer aus festen, roten Steinen, viel größer als die Hütte seines Herrn.
Eine mächtige Herrin musste sie sein, wenn sie in solch einem Haus wohnte. Mora ahnte, dass es ihm nicht zustand, noch länger in ihrer Nähe zu verweilen. Dennoch blieb er am Waldrand und drückte sich in den Schatten der Bäume. Er wollte sie wenigstens noch einmal sehen, noch einmal in Ruhe ihr Gesicht betrachten. Sie war so schnell vor ihm geflohen, dass nur eine Ahnung von ihrem Antlitz in seiner Erinnerung blieb, gerade genug, um zu wissen, dass sie beide von derselben Art waren. Sie beide waren Menschen, Kreaturen, die der Herr als Scheusale bezeichnete.
Doch auch wenn er sie nur kurz gesehen hatte – Mora konnte sich nicht vorstellen, dass dieses Weibchen bösartig war. In diesem kurzen Moment war sie ihm schön erschienen, schöner als alles, was er je erblickt hatte.
Er musste sie noch einmal sehen, musste herausfinden, was für eine Kreatur sie war, ob sie so war, wie der Herr die Menschen immer darstellte: hinterhältig, verlogen, heuchlerisch.
Mora konnte es nicht glauben. Er spürte noch ihre Angst, ihre Verletzlichkeit, die sie mit ihrer hastigen Flucht offenbart hatte. Mit jeder ihrer Bewegungen hatte sie Mora gerührt, vor allem, weil sie nicht schnell genug gewesen war, weil es so einfach gewesen wäre, sie zu fangen.
Es war Mora niemals leichtgefallen, Tiere zu jagen. Wenn sie rannten, wenn sie schrien, wenn sie schwächer waren als er, dann hätte er manchmal lieber den Hunger gewählt als ihren Tod durch seine Hand. Aber solche Entscheidungen traf der Herr, und spätestens seit er Mora als Strafe für ein entflohenes Rehkitz ein paar Wochen hatte hungern lassen, wusste Mora, dass ihm nichts anderes übrigblieb.
Doch dieses Rehkitz zeigte Mora noch immer seine Dankbarkeit. Inzwischen war es eine ausgewachsene Ricke, die selbst schon viele Kitze bekommen hatte. Immer, wenn Mora allein war, fern von der Hütte seines Herrn, dann kam sie zu ihm, ließ sich das Fell von ihm bürsten und nahm die Körner, die Mora für sie zusammengeklaubt hatte. Vielleicht war es diese Ricke, die ihm gezeigt hatte, dass es nicht falsch war, Mitleid zu empfinden. In ihrer Nähe fühlte er sich gut, viel besser als in der Gegenwart des Herrn – und er wusste, dass es schrecklich sein würde, wenn der Geheime sie eines Tages jagte und tötete.
Mora lehnte bereits einen halben Tag lang an dem Stamm einer Buche, als die Ricke zwischen den Bäumen erschien und ihn besuchte. Sie stupste ihn an der Hand und ließ sich streicheln. Zusammen blickten sie auf das Menschenhaus, in dem das Weibchen verschwunden war. Wenn er sie wenigstens noch einmal sehen könnte …
Doch bis zum Abend kam sie nicht heraus. Die Ricke war schon lange wieder verschwunden, und die herbstliche Kälte kroch mit dem Tau aus der kleinen
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