Der geheime Name: Roman (German Edition)
wäre es möglich, einen Arzt so durch das Moor zu lotsen, dass er nicht bemerkte, in welche Welt er ging?
Sie verwarf den Gedanken gleich wieder. Spätestens, wenn die Sanitäter auf die Idee kamen, mit dem Krankenwagen näher durch den Wald heranzufahren, käme sie in Erklärungsnot.
Sie war sich nicht einmal sicher, ob andere überhaupt zu Moras Höhle gelangen konnten. Sie hatte die normale Welt und alle dort gültigen Regeln verlassen. Welche Regeln hier galten, wusste sie nicht.
Für einen Moment fragte sie sich, ob sie Mora vielleicht tragen konnte. Dann könnte sie ihn wenigstens zu ihrer Großmutter bringen.
Aber sie scheiterte bereits an dem Versuch, ihn anzuheben. Also war sie hier auf sich allein gestellt, musste ihn irgendwie heilen oder ihm beim Sterben zusehen.
Eine Panikwelle rollte durch ihren Körper. Sein Leben hing von dem ab, was sie tat, was sie richtig oder falsch machte.
Fina atmete tief ein, um die aufsteigende Panik zu unterdrücken. Nur wenn sie ruhig blieb, konnte sie ihm helfen.
»Mora.« Sie flüsterte ihm zu. »Du musst aufwachen, du musst wenigstens was trinken, sonst stirbst du.«
Für einen Moment kam es ihr vor, als würden seine Augenlider flattern, als würde er versuchen, sie zu öffnen – doch wahrscheinlich war es nur das Frösteln, das seinen Körper erschütterte.
Sie musste ihn wärmen! Ein Feuer allein reichte nicht. Wie hatten die Menschen sich früher warm gehalten?
Plötzlich wusste sie, wie es gehen konnte. Sie lief nach draußen, suchte eine Reihe von handlichen Steinen im Wald und legte sie in der Höhle ins Feuer. Über den Flammen hing noch ein Kessel mit Wasser, das sich inzwischen erhitzt hatte. Sie schöpfte etwas in eine Schale und trug es zu Mora. Sie hatte Waschlappen und Handtücher mitgebracht, Dinge, die ihm fehlten … Vorsichtig fing sie an, sein Gesicht zu waschen. Sie zog ihm das nasse Hemd aus, rubbelte seinen Oberkörper zuerst mit heißem Wasser und dann mit einem Handtuch ab.
Schließlich ging sie zum Feuer, rollte die Steine mit einem Schürhaken heraus und wickelte sie in die restlichen Handtücher und ihre Ersatzklamotten. Einen nach dem anderen trug sie zu Mora und schob sie zu ihm unter die Felle.
Die ganze Zeit lang saß das Eichhörnchen neben seinem Lager und schien ihre Arbeit zu überwachen.
»Sie ist zurückgekommen.« Eine heisere Stimme unterbrach sie, als sie gerade den letzten Stein unter seine Decke schob.
Fina zuckte zusammen. Moras Gesicht lag in ihre Richtung gewandt. Das Feuer schimmerte in seinen schwarzen Augen – nur ganz kurz, bevor seine Lider wieder zufielen.
»Mora!« Fina berührte seine Stirn. »Sieh mich noch mal an.« Sie räusperte sich, erinnerte sich an seine Sprache. »Er muss wach bleiben, er muss etwas trinken!«
Sie sprang auf, mischte einen Becher aus heißem und kaltem Wasser, hockte sich damit neben ihn und versuchte, ihn aufzurichten. Sein Oberkörper war schwer, doch schließlich half er ein wenig und ließ sich ein paar Schlucke einflößen. Mit einem Stöhnen sackte er zurück auf die Felle. »Sie ist zurückgekommen«, murmelte er kaum hörbar, die Augen noch immer geschlossen. Einen Moment später wurde sein Gesicht ruhig, beinahe so, als wäre er wieder eingeschlafen.
Er brauchte Medizin! Wenn sie schon keinen Krankenwagen rufen konnte, musste sie ihm wenigstens Medizin besorgen.
Finas Blick fiel auf ihren Rucksack. Sie hatte Medizin dabei! Im Seitenfach war noch immer ihre Fluchtapotheke, ein Erste-Hilfe-Set mit Verbandszeug und zusätzlich Aspirin und … Finas Herz machte einen Satz. Sie hatte ein Antibiotikum dabei!
Ihre Mutter hatte immer an alles gedacht, an sämtliche Fälle, die während ihrer Flucht eintreten könnten. Fina hatte das Notfallantibiotikum nie gebraucht. Aber ihre Mutter hatte stets auf das Ablaufdatum geachtet und ihr regelmäßig ein neues verschreiben lassen.
Die Reiseapotheke war schon so lange ihr ständiger Begleiter, dass sie gar nicht mehr daran gedacht hatte.
Fina sprang zu ihrem Rucksack, wühlte in ihrem Seitenfach. Plötzlich fürchtete sie, dass das Antibiotikum doch nicht mehr dort war. Hastig schob sie die Verbandsachen hin und her, bis sie die Schachtel in ihrer Hand hielt. Amoxicillin, ausreichend für vierzehn Tage. Sie wusste nicht, was Mora hatte, aber ein Antibiotikum würde sicher nicht schaden.
Er hatte das, was sie gehabt hatte! Mit einem Schlag wurde Fina klar, was das bedeutete. Sie hatte ihn angesteckt, mit einer Kleinigkeit,
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