Der geheime Name: Roman (German Edition)
zu beobachten, die sich flink bewegten, während sie die Formeln aneinanderreihten. Ihr Mund war so anders als der des Geheimen, zierlich und schmal. Weiße Zähne blitzten darin auf, und manche Worte zauberten ein Lächeln auf ihr Gesicht.
Sie war zu ihm zurückgekommen, sie hatte ihn mit ihrem Zauber aus der Dunkelheit geholt.
Ein starker Schmerz zog durch seine Brust und erinnerte ihn daran, dass er noch immer krank war. Kränker als je zuvor. Doch auf irgendeine Weise fühlte sich die Krankheit schön an.
Ganz plötzlich, ohne dass er sagen könnte, warum, verstand er eines ihrer Worte.
* * *
Fina versank immer tiefer in der Geschichte von Kristin. Sie hatte nicht gewusst, wie schön sie damals, im Alter von vierzehn, schon geschrieben hatte. Mit ihren Worten kehrte sie zurück nach Schweden und durchlebte die Freundschaft noch einmal. Beinahe vergaß sie, wo sie eigentlich war.
Nur manchmal blickte sie zu Mora und wurde sich klar darüber, warum sie trotz aller Angst wieder zu ihm zurückgekehrt war: Er war der einzige Mensch, der noch einsamer sein musste als sie. Der Einzige, der sie vielleicht irgendwann verstehen würde. Falls er jemals lernte, ihre Sprechweise zu durchschauen.
Je länger sie darüber nachdachte, desto klarer erkannte sie das Problem: Wenn er wirklich sein ganzes Leben lang nur in der dritten Person gesprochen hatte, dann kannte er kein du und kein ich, kein wir, kein ihr, kein deine und meine, nicht einmal ein mich oder dich. Selbst alle Verben, die man sprach, hatten eine andere Form. Er wusste nicht, was bin oder bist bedeutete. Er kannte nur das Wort ist.
Aber vielleicht konnte er die Worte lernen. Womöglich half es ihm, wenn sie weiter vorlas. Also ließ sie ihre Sprache in einem Endlosstrom über ihm herabregnen, legte ihm alles offen, was sie damals, vor fünf Jahren, erlebt hatte. Er sollte es verstehen, sollte sie kennenlernen. Je länger sie las, desto stärker wurde ihr Wunsch danach.
An irgendeinem der folgenden Tage unterbrach Moras Stimme sie plötzlich: »Wenn sie › ich‹ sagt, dann meint sie sich selbst.«
Fina fuhr auf. Er lag auf seinem Lager und sah sie an. Seine schwarzen Augen leuchteten ihr entgegen, die Blässe in seinem Gesicht war seiner dunklen Hautfarbe gewichen.
Plötzlich musste sie lachen. Es funktionierte, er lernte ihre Sprache, viel schneller, als sie geglaubt hatte. »Ja! Wenn ich ›ich‹ sage, dann meine ich mich selbst.«
Mora richtete sich langsam auf. Zum ersten Mal erschienen seine Augen so klar, als wäre er aus seinem Fieber zurückgekehrt.
Das Blut rauschte in Finas Ohren. Wie lange war er schon wach, wie lange sah er ihr schon zu? Sie streckte ihre Hand nach ihm aus, berührte vorsichtig seine Brust. »Und wenn ich › du‹ sage, dann meine ich dich, Mora.«
Er stieß die Luft aus, zuckte vor ihr zurück, als hätte sie ihn verbrannt.
»’tschuldigung.« Fina legte ihre Hand wieder an das Buch. »Soll ich weiterlesen?«
Mora starrte sie einen Moment lang an. Schließlich nickte er.
Fina suchte die Zeile, in der sie geendet hatte, und fuhr mit dem Vorlesen fort. Es fehlte nicht mehr viel, nur noch das plötzliche Ende, der Befehl ihrer Mutter, ihre Sachen zu packen, der Abschied von Kristin und dann der Umzug.
Als Fina das Buch zuschlug, betrachtete Mora sie noch immer. Er hatte seinen Kopf in die Hand gestützt und streichelte mit der anderen Hand das Eichhörnchen, das unbemerkt hereingekommen war. »Dann muss ihre Herrin sehr stark sein.«
Fina erstarrte. Sprach er über ihre Geschichte, über das, was sie gelesen hatte? »Meine Herrin?«
Mora nickte zögernd. »Ja. Sie ist doch ihre Herrin? Sie nennt sie Mutter oder Mama.«
Fina lachte auf, verstummte aber noch im gleichen Moment. Aus dieser Perspektive hatte sie es noch nie betrachtet. »O mein Gott, du hast recht.« Sie blickte Mora in die Augen. »Meine Mutter war meine Herrin. Aber ich bin ihr entlaufen. Jetzt bin ich frei und kann machen, was ich will.«
Moras Hand hörte auf, das Eichhörnchen zu streicheln. Das Kleine keckerte empört und angelte nach seinen Fingern.
»Und was ist mit dir?« Die Frage rutschte Fina heraus: »Bist du deinem Herrn auch entlaufen?«
Mora senkte den Kopf, sein Blick huschte über den Boden.
Fina erstarrte. Was bedeutete das? Dass sein Herr noch in der Nähe war? Dass er ihm noch immer diente?
Unwillkürlich blickte Fina zum Höhleneingang. War sein Herr auch für sie gefährlich?
Etwas Warmes legte sich auf ihre Hand und riss
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