Der geheime Name: Roman (German Edition)
mit irgendeinem harmlosen Infekt, wie sie ihn schon unzählige Male gehabt hatte. Bei ihm war eine schwere Krankheit daraus geworden.
Plötzlich erinnerte sie sich daran, was sie einmal von Urvölkern gehört hatte, die erstmalig mit zivilisierten Menschen in Kontakt kamen. Grippale Infekte, harmlose Bakterien, alles das, was die meisten Westeuropäer aus eigener Kraft besiegten, konnte bei ihnen zu einer Seuche werden. Weil ihr Immunsystem die Keime nicht kannte.
Konnte es sein, dass Moras Körper ihre Krankheiten aus ähnlichen Gründen nicht kannte? Bedeutete das, dass er tatsächlich ohne Kontakt zu Menschen aufgewachsen war?
Fina blickte auf den wilden Jungen. Das würde zumindest erklären, warum er auf diese Weise lebte, ohne sich daran zu stören.
Sie nahm die Tabletten aus der Packung, holte frisches Wasser und kniete sich neben ihn. Wenn ihre Theorien stimmten, dann hatte er sicher noch nie eine Tablette geschluckt. Wie sollte sie ihn dazu bringen? Falls sie es überhaupt schaffte, ihn wach zu rütteln.
»Mora.« Sie streichelte wieder über seine Stirn. »Wach auf! Sie hat Medizin für ihn.«
Er reagierte nicht. Einzig seine Haut war deutlich wärmer geworden, und sein Schlottern ließ allmählich nach.
Möglicherweise war er auch deshalb krank geworden, weil er immer so leichtbekleidet herumlief. Warum kleidete er sich nur in das dünne Leder? Warum nähte er sich nichts Wärmeres aus seinen Fellen?
Vielleicht wollte er krank werden, womöglich war es ihm egal, wenn er starb.
»Mora!« Dieses Mal sprach sie lauter, beugte sich an sein Ohr. »Wach auf! Bitte. Sie hat etwas mitgebracht, das ihn gesund macht.«
Moras Kopf rollte zur Seite, wich ihrer Stimme aus.
Fina fing an zu flehen: »Ihr ist es wichtig, dass er lebt. Sie ist zurückgekommen, um ihm zu helfen. Seine Tiere haben sie gerufen.«
Mora gab ein unverständliches Murmeln von sich. Nur ein halber Satz löste sich deutlich daraus: »Es ist nicht wichtig.«
Finas Pulsschlag hämmerte durch ihre Adern. »Doch, es ist wichtig.«
Er reagierte nicht auf ihre Antwort. Nur seine Stirn wurde von Minute zu Minute heißer.
Es hatte keinen Sinn. Er würde nicht aufwachen. Und selbst wenn, wäre es wohl unmöglich, ihm eine Tablette zu verabreichen. Schließlich hatte er es kaum geschafft, etwas zu trinken.
Fina betrachtete seine geschlossenen Lider und fragte sich, ob sie jemals sein Gesicht unter dem Bart sehen würde. Ihr Blick verschwamm, bis sie ihn nicht mehr erkennen konnte.
»Warum weint sie?« Plötzlich sprach er – so leise, dass sie sich nicht sicher war.
Hastig wischte sie die Tränen aus ihren Augen.
Er sah sie an. Sein Blick erschien glasig, immer noch so, als wäre er weit entfernt in einer anderen Welt. Aber er war wach.
Fina richtete sich auf. »Nicht wieder einschlafen, Mora. Sie hat Medizin für ihn.« Sie versuchte, eine Tablette aus der Packung zu drücken, ohne ihren Blick von ihm abzuwenden. Schließlich schaffte sie es und zeigte ihm die große, längliche Pille. »Er muss das herunterschlucken. Das wird ihm helfen.«
Mora blickte verständnislos auf die Tablette. Vermutlich hatte er etwas Ähnliches noch nie gesehen.
Fina hielt sie ihm entgegen. »Sie sieht nicht so aus, aber sie hat große Kräfte. Sie kann ihn gesund machen. Du musst mir vertrauen.« Sie streichelte wieder über seine Stirn. »Vertraut er ihr?«
Mora nickte langsam.
Fina fasste seine Schultern und half ihm, sich aufzurichten. »Er muss den Mund aufmachen. Sie wird die Tablette hineinlegen, und er muss sie mit dem Wasser herunterschlucken. Er darf sie auf keinen Fall kauen. Hat er das verstanden?«
Mora zögerte einen Moment. Doch schließlich nickte er wieder und öffnete den Mund.
Fina legte die Tablette hinein und setzte den goldenen Becher an seine Lippen.
Er trank tatsächlich und verzog keine Miene zu dem unbekannten Gebilde, das er dabei hinunterschluckte. Als er sich hinlegte, atmete Fina erleichtert auf.
Auch das Eichhörnchen keckerte neben ihr. Im nächsten Moment sprang es mit weiten Sprüngen zum Tunnel und verschwand nach draußen.
Wenn sie Glück hatten, würde Mora gesund werden.
* * *
Die ganze Nacht und den nächsten Tag lang lag Mora im Fieber. Fina blieb bei ihm und verabreichte ihm regelmäßig das Antibiotikum und so viel Wasser, wie er trinken konnte. Zwischendurch versuchte sie, in den schweren Kesseln etwas zu kochen. Sie hatte Kartoffeln, Möhren und Blumenkohl mitgebracht. Eigentlich hatte sie herausfinden
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