Der geheime Name: Roman (German Edition)
nicht einfach, bis die Post in deinem Briefkasten liegt?«
Fina stieß ein atemloses Lachen aus. Sie nahm die Briefe und studierte die Absender. Einer kam von einem College in New York, der andere von einer Fotografenschule aus Berlin. Es waren Bewerbungsunterlagen und Infobroschüren, nicht gerade das, was ihre Mutter im Postkasten finden sollte. »Sagen wir, ich habe ein kleines Geheimnis.«
Der Postbote nickte. Gutmütige Lachfältchen erschienen um seine Augen. »Ein Geheimnis? Etwas so Gefährliches?«
Fina lachte erneut. Sie mochte den Postboten. Er sagte meistens etwas, worüber sie lachen musste. »Ein wahnsinnig gefährliches Geheimnis.« Sie ließ ihre Stimme so tief wie möglich klingen.
Plötzlich verschwanden seine Lachfältchen, wichen einem finsteren Ernst. »Dann bewahre dein Geheimnis, solange es ausreicht, darüber zu schweigen.« Der Postbote winkte sie mit dem Zeigefinger heran, wartete, bis sie sich zu ihm beugte, und sprach leise weiter: »Aber wenn du beginnen musst zu lügen, dann löse es auf. Denn wer einmal lügt, muss weiterlügen. Und wer immer lügt, wird schnell zum Verräter.« Er schüttelte den Kopf, verzog sein Gesicht zu einer hoffnungslosen Grimasse. »Und wenn du erst die verrätst, die du liebst – dann verlierst du alles, was dir wichtig ist.«
Fina wich vor ihm zurück. Etwas an seinen Worten vertrieb die Hitze des Sommers und blies einen eisigen Windhauch über ihre Haut. Plötzlich kam es ihr vor, als würde er das Ende ihrer Geschichte bereits kennen.
Der Postbote brach in lautes Lachen aus. Seine Fältchen kehrten zurück, während er sein Gesicht aus dem Fenster streckte. »Hhm. Abkühlung.« Er deutete auf die entfernte Silhouette der Alpen. »Der Mistral.«
Finas Blick folgte seinem, streifte die riesigen Wolken, und erst jetzt bemerkte sie, woher der eisige Wind stammte. Urplötzlich hatte der Mistral eingesetzt, winzige Sandkörnchen hagelten auf ihre Haut und stachen wie tausend kleine Stecknadeln.
»Ich muss weiter.« Er hob die Hand zum Abschied. »Au revoir!«
»Au revoir.« Fina trat von dem Auto zurück. Mit gekräuselter Stirn sah sie ihm nach. Der kühle Wind fegte um ihren Körper, ließ die blonden Haare in ihr Gesicht flattern und trocknete ihren Schweiß.
Wenn du erst die verrätst, die du liebst – dann verlierst du alles, was dir wichtig ist.
Dieser Satz bedeutete etwas, hatte etwas mit ihrem Leben zu tun.
Sie hatte niemanden verraten, und so bald wie möglich würde sie ihr kleines Geheimnis auflösen.
Der Postbote hielt am Haus ihrer Mutter, warf etwas in den Briefkasten neben der Oleanderhecke und fuhr weiter. Düster lugte das kleine Bruchsteinhaus über der Hecke hervor. Der Schatten des Wolkenufos lag noch immer darüber und raubte ihm das Sonnenlicht.
Ein furchtbares Nagen zog durch Finas Magengegend, wie ein hungriges Tier kletterte es aus einem Abgrund, dessen schwarze Tiefen sie noch nie gesehen hatte. Sie dachte an ihren Vater, dem sie nie begegnet war. Alles, was sie über ihn wusste, hatte ihre Mutter ihr erzählt. Fina hatte sich immer darauf verlassen, dass Susanne die Wahrheit sagte. Aber wenn sie genau darüber nachdachte, dann gab es Hinweise darauf, dass etwas nicht stimmte. Es gab einen Teil der Geschichte, den ihre Mutter geheim hielt. Wann immer Fina zu viele Fragen stellte, wich Susanne ihr aus.
Nicht Fina war diejenige, die ein gefährliches Geheimnis hütete.
Auf einmal wurde ihr klar, dass sie Susannes Geheimnis immer ignoriert hatte. Es war ein furchtbarer Gedanke, von der eigenen Mutter hintergangen zu werden – so schrecklich, dass sie lieber so getan hatte, als wäre alles in Ordnung. Aber was, wenn der Postbote recht hatte?
Die plötzliche Kälte brachte Fina zum Zittern. Sie kniff die Augen zusammen und starrte auf die Oleanderhecke.
Verschwieg ihre Mutter ihr nur etwas, oder hatte sie bereits angefangen, sie anzulügen? Log sie nur manchmal oder immer? Und war sie nur eine Lügnerin, oder hatte sie bereits begonnen, ihre Liebsten zu verraten?
Das Pferd schnaubte, und Finas Aufmerksamkeit kehrte zurück in die Gegenwart. Die Stute trat auf der Stelle und warf ihren Kopf hin und her. Ihre weiße Mähne flatterte im Wind.
Fina klopfte ihr beruhigend den Hals. Ihr Blick streifte die beiden Wolkenufos, die noch immer regungslos über dem Tal standen. Sand knirschte zwischen ihren Zähnen, setzte sich in ihre Ohren und verklebte ihre Nase. Sie kraulte der Stute die Mähne und fühlte den Sand zwischen
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