Der geheime Name: Roman (German Edition)
ermordet. In den Jahrzehnten danach zurückgedrängt nach Osteuropa und schließlich beinahe vergessen von der westlichen Welt, fast so, als wären sie nur noch Geschichte. Und dennoch waren die Roma noch immer die größte Minderheit in Europa, noch immer Vertriebene, Unberührbare, ein fahrendes Volk auf ihrer ewigen Flucht und der Suche nach einem besseren Leben.
Während Fina den Worten ihrer Mutter lauschte, entstand bei ihr ein immer stärkeres Gefühl der Verbundenheit mit den Roma. Fast so, als wäre sie selbst Teil dieses heimatlosen Volkes, ihr Leben lang auf der Flucht, ohne jemals irgendwo bleiben zu können, als würde sie von dem gleichen, uralten Fluch verfolgt.
Mora durchbrach ihren Tagtraum. Er kniete vor ihr und sah sie besorgt an. Plötzlich konnte sie die Wärme fühlen, die sein Körper abstrahlte, konnte das schwache Bibbern sehen, das er in solcher Nähe nicht vor ihr verbergen konnte. Seine braune Haut war getrocknet, die Härte war aus seinem Gesicht verschwunden, nur seine Haare standen noch genauso strubbelig von seinem Kopf ab.
Fina begegnete dem Blick seiner schwarzen Augen. Sie wurden weicher, zogen sich gemeinsam mit seinen Lippen zu einem erleichterten Lächeln.
Er besaß die gleiche braune Haut wie der Junge in Siena, die gleichen schwarzen Augen und die gleichen strubbelig dichten Haare. Und das, was sie vorhin verunsichert hatte, war dieselbe Wildheit, die auch in den Blicken der Roma-Jugendlichen lag, dieselbe, unbezähmbare Stärke, die sich von niemandem brechen ließ und allem trotzte, was sich gegen sie stellte.
Fina war sich plötzlich sicher, woher er stammte. »Du bist ein Roma.«
Mora! Selbst sein Name war ein Anagramm. Fina wurde so aufgeregt, dass sie kaum stillhalten konnte.
Doch Mora schüttelte verständnislos den Kopf. »Wovon redet sie?«
Fina starrte ihn an. Er war allein in dieser Höhle. Kein Roma lebte allein, es sei denn … »Haben sie dich verstoßen? Hat deine Sippe dich aus ihrer Gemeinschaft ausgeschlossen?«
Mora wich ihrem Blick aus. »Es versteht sie wirklich nicht.«
Wenn er ein Roma war, warum redete er dann so seltsam? Müsste er dann nicht eine ganz andere Sprache sprechen, die gleiche, die ihre Mutter mit dem Jungen gesprochen hatte?
Fina hatte sie nie gefragt, welche Sprache es gewesen war. Über die Geschichte der Roma hatte sie diese Frage einfach vergessen.
Warum beherrschte ihre Mutter die Sprache dieses Volkes? Sie konnte viele Sprachen, genauso viele wie Fina. Aber warum konnte sie eine weitere, von der sie Fina nie etwas erzählt hatte?
Und überhaupt: Warum hatte sie damals im Auto geweint? Warum hatte sie die Roma angestarrt, anstatt weiterzufahren? Warum hatte sie ihnen fünfzig Euro gegeben?
Mora wusste nicht, wovon sie sprach, und trotzdem hatte sie plötzlich den Eindruck, als würden all die ungeklärten Fragen mit ihm zusammenhängen.
»Wer ist deine Mutter?«, flüsterte sie ihm zu.
Eine steile Falte bildete sich auf seiner Stirn. »Eine Mutter wie ihre? Er hat keine solche Mutter.«
Mora kannte das Wort nicht. Fina fiel es wieder ein. Er glaubte, ihre Mutter wäre ihre Herrin. »Dann weißt du nicht, was eine Mutter ist? Das ist die Frau, die dich im Bauch hatte, die dich geboren hat. Und du bist ihr Kind. Eine Mutter liebt ihr Kind. Sie tut alles für ihr Kleines, sie gibt ihm Essen, sie zieht ihm warme Kleidung an. Wenn es sich weh tut oder traurig ist, dann nimmt sie es in den Arm und trocknet seine Tränen. Und sie bleibt immer bei ihm, so lange bis ihr Kind erwachsen ist und sie nicht mehr braucht.«
Mora lauschte ihren Worten, senkte schließlich den Kopf. Sein Zittern wurde stärker, fast so, als könnte er es nicht länger unter Kontrolle halten. »Es hat keine solche Mutter.«
Fina wollte ihm über die Haare streicheln, ihn in den Arm nehmen. Doch wenn er solche Nähe von niemandem kannte, dann war es kein Wunder, wenn sie ihn verwirrte. »Jedes Kind hat eine Mutter, Mora. Wenn du dich an deine nicht erinnern kannst, dann musst du sehr früh von ihr getrennt worden sein.«
Mora wandte sich von ihr ab, stand auf und trat ans Feuer. Sein Zittern mündete in einem kurzen Schaudern. Die Härte kehrte auf sein Gesicht zurück und zeichnete eine winzige Längsfalte auf seine Stirn.
Mehr denn je wollte Fina wissen, wer er war. »Hat dein Herr dich großgezogen? Hat er dir Essen und Kleidung gegeben? Hat er dich getröstet, wenn du geweint hast?«
Mora sah auf. Plötzlich hüpfte ein Lachen aus seiner Kehle,
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