Der geheime Name: Roman (German Edition)
beherrschte.
Die Augen des Jungen wurden noch größer, als sie ohnehin schon waren. Er bedankte sich in der gleichen Sprache, murmelte dreimal hastig den gleichen Satz und küsste das goldene Kreuz, das er um seinen Hals trug. Schließlich lief er um das Auto herum an den Straßenrand.
Fina entdeckte ein Mädchen in einem langen, bunten Rock, das auf ihn zueilte. Sie war kaum älter als Fina damals, also kaum älter als fünfzehn. Dennoch hielt sie ein Baby auf dem Arm. Der Junge drückte ihr den Fünfzigeuroschein in die Hand und umarmte sie.
Für einen kurzen Moment begegnete Fina ihrem Blick. Das Mädchen strahlte aus schwarzen funkelnden Augen. Ihre langen schwarzen Haare leuchteten in der Sonne, halb verborgen unter einem bunten Tuch.
In der nächsten Sekunde wandte sie sich zu dem Jungen und küsste ihn.
Fina konnte den Blick kaum von ihnen lösen, wie sie dort standen, am Straßenrand der Kreuzung, und sich so stürmisch küssten, als wären sie vollkommen allein. Gleich darauf wurden sie umringt von den anderen: ein ganzes Rudel von Jungen mit nacktem Oberkörper und Mädchen mit bunten Röcken. Der Junge sprach kurz mit ihnen, und plötzlich sahen sie alle zu ihr und ihrer Mutter herüber. Etwas Wildes lag in ihren Blicken, unnahbarer Stolz, der so aussah, als wäre es unmöglich, ihn zu brechen.
Ein vielstimmiges Hupen riss Fina von dem Anblick los. Mit ärgerlichem Aufheulen fuhr ein Auto an ihnen vorbei. Fina sah, dass die Ampel längst wieder auf Grün gesprungen war, und blickte zu ihrer Mutter.
Doch die starrte wie paralysiert auf die jungen Menschen. Tränen liefen über ihr Gesicht, bevor sie hastig darüberwischte und mit quietschenden Reifen losfuhr.
Fast kollidierten sie mit einem anderen Auto. Ein wütendes Hupen gellte in Finas Ohren, und dann waren die Jugendlichen hinter ihnen verschwunden.
Fina konnte kaum einordnen, was geschehen war, konnte es kaum begreifen. »Was waren das für Leute?«
Ihre Mutter wischte sich noch einmal über das Gesicht und atmete tief ein. »Das waren Roma. Früher auch Zigeuner genannt«, erklärte sie.
Und dann fing sie an zu erzählen, von einem Volk, das seit Jahrhunderten von einem Ort zum anderen reiste, ohne jemals irgendwo aufgenommen zu werden. Ihre Geschichte reichte weit zurück, bis ins achte Jahrhundert, als sie in Indien aufgebrochen waren. Menschen aus der untersten Kaste, Unberührbare, die sich und ihre Familien kaum ernähren konnten und darauf hofften, woanders ein besseres Leben vorzufinden. So zogen sie los, von einem Land ins andere, bis sie im Mittelalter Europa erreichten. Ein fahrendes Volk mit dunkler Haut und schwarzen Haaren, deren Ursprung niemand ergründen konnte. Sie gaben sich als gottesfürchtige Pilger aus, die aus dem Morgenland kamen und durch ihre endlose Reise nach göttlicher Erlösung suchten. Eine Zeitlang wurden sie verehrt und für ihr musikalisches Talent geachtet. Bis die Menschen immer misstrauischer wurden, weil einige von ihnen ihren Lebensunterhalt mit Hellseherei verdienten und andere sich mit Diebstahl ernähren mussten. Also wurden sie bald wieder gefürchtet und verachtet, gejagt und als Hexen verfolgt. Sie waren Fremde, egal wohin sie kamen, wurden überall vertrieben und gehasst. Ihr einziger Halt, ihr einziges Zuhause war ihre Familie, die Sippe, mit der sie reisten, zu der sie gehörten, die mit ihrer Gemeinschaft für jeden Einzelnen sorgte. Die Sippe stellte die Regeln auf, nach denen sie leben mussten, und die härteste Strafe für einen Roma war der Ausschluss aus seiner Gemeinschaft. So richteten sie sich nur nach ihren eigenen Gesetzen. Ein Volk, das die niedersten Mittel nutzen musste, um zu überleben, dem nichts anderes blieb, als immer weiter zu stehlen und zu betteln. Ein Volk, von dem behauptet wurde, dass es sich nicht integrieren wollte, und das immer unter sich blieb, scheinbar wild, gefährlich und unnahbar.
Nur wenige durften sich je irgendwo niederlassen und mit ehrlicher Arbeit Geld verdienen, nur wenige der Kinder kamen je in eine Schule. Mit der Bildung blieb den Roma jedoch auch der Fortschritt verwehrt, und so entwickelten sich die sesshaften Menschen immer weiter, während die Gesellschaft der Roma über die Jahrhunderte gleich blieb. Auf diese Weise wurden sie immer weiter an den Rand gedrängt, wurden immer fremder, immer unverstandener. Ein fahrendes Volk, das von überall vertrieben wurde, überall gehasst und verachtet, im Zweiten Weltkrieg zu Tausenden in KZs
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