Der geheime Name: Roman (German Edition)
das erste Mal, dass sie einen solchen Laut von ihm hörte. Doch er klang hart, während seine Augen sich in kalte Steine verwandelten.
Gleich darauf wandte er sich ab, holte eine Dose aus seiner Wandnische und verschwand damit nach draußen.
Fina sackte zusammen, legte den Kopf auf die Knie und spürte, wie die Tränen in ihre Augen traten. Warum zum Teufel hatte sie ihm so viele Fragen gestellt? So furchtbare Fragen? Hatte sie etwa geglaubt, dass er über seinen Herrn reden würde? Über die Narben auf seinem Rücken?
Wie war sie nur auf die bescheuerte Idee gekommen, ihn zu fragen, ob sein Herr ihn getröstet hatte?
Sein Herr hatte ihn geschlagen! Misshandelt! Eine Mutter besaß er nicht und auch niemanden sonst, der ihn je getröstet hatte, niemanden, der ihm warme Kleidung schenkte, niemanden, der ihn liebte.
Stattdessen hatte er gelernt, sich selbst zu hassen. Warum sonst sollte er sich mit eisigem Wasser quälen und seinem Körper diese grausame Kontrolle abzwingen?
Er war gerade erst gesund geworden. Wenn jetzt der nächste Infekt über ihn herfiel, schaffte sie es vielleicht nicht mehr, ihn zu heilen.
Ein leises Winseln entschlüpfte ihr, steigerte sich zu einem Schluchzen, das von den Wänden der Höhle auf sie zurückgeworfen wurde. Sie konnte nicht damit aufhören, verbarg einzig ihren Kopf zwischen den Armen und drückte ihre Schultern auf die Ohren.
Hatte er jemals über sein Unglück geweint? Konnte man das Unglück überhaupt fühlen, wenn man nichts anderes kannte?
Es half ihm nichts, wenn sie für ihn heulte, wenn sie für ihn unglücklich war.
Fina sprang auf. Entschlossen wischte sie über ihr nasses Gesicht. Mora hatte jemanden, der ihm warme Kleidung schenkte!
Sie lief zu ihrem Rucksack und holte den gestrickten Pulli daraus hervor. Warum hatte sie ihn Mora nicht schon viel eher gegeben?
Vielleicht, weil sie auf den richtigen Moment gewartet hatte, weil sie den Pulli nicht einfach hervorholen und zeigen wollte wie ein Feuerzeug oder eine Möhre.
Sie hatte ihn extra für Mora gestrickt, er war etwas Besonderes.
Und wahrscheinlich hatte sie auch gefürchtet, dass er ihn ablehnen würde. Selbst das Lederhemd trug er nur, wenn er für längere Zeit nach draußen ging, fast so, als würde es ihm gefallen, sich mit der Kälte zu quälen.
Aber jetzt musste sie ihm den Pulli schenken, ob er ihn annehmen würde oder nicht.
Fina entwich ein Lachen, in das noch der letzte Rest ihres Schluchzens gemischt war. Sie drückte den Pulli an ihre Brust und kroch durch den Tunnel nach draußen.
Nachdem sie aus dem schmalen Loch geklettert war, hielt sie inne. Mora war nicht allein vor seiner Höhle. Er saß auf dem Findling, tauchte seine Hand in die goldene Dose und streute Brotkrumen vor sich auf den Waldboden. Ein ganzer Schwarm kleiner Vögel hüpfte und flatterte hin und her, um sie aufzupicken. Es war ein seltsamer Anblick, so viele Vögel in der Dunkelheit zu sehen. Doch es war noch nicht das Merkwürdigste: Direkt neben Mora stand das Reh, das bei Fina vor der Mühle erschienen war, und stupste ihn an der Schulter. Mora nahm ein größeres Brotstück aus der Dose und gab es der Ricke. Er streichelte ihren Hals, während das Eichhörnchen auf seinen Schoß kletterte, um sich selbst etwas aus der Dose zu nehmen.
Fina musste lachen. Erneut schossen ihr Tränen in die Augen.
Es stimmte nicht, dass ihn niemand liebte.
Mora und die Tiere verschwanden hinter einem Schleier. Fina wischte sich über die Augen, brauchte jedoch einen Moment, um die erneute Flut zurückzudrängen.
Als sie wieder sehen konnte, stand Mora vor ihr. Einen guten Kopf größer als sie, seine Schulter nah genug, um sich daran anzulehnen.
Er hatte sie schon auf seinen Armen getragen, hatte sie aufgefangen, hatte ihr die Kleidung ausgezogen und war auf ihrer Brust eingeschlafen. Doch heute hatten ihre Berührungen jede Unschuld verloren, hatten eine Bedeutung bekommen, die ihm zu viel wurde.
»Ich hab etwas für dich gestrickt.« Fina hielt ihm den Pulli entgegen. »Etwas zum Anziehen, damit du hier draußen nicht wieder krank wirst.«
Mora betrachtete ihr Gesicht. Fina konnte fast spüren, wie sein Blick auf ihren Tränen ruhte. Doch er sagte nichts, streckte nur langsam die Hände nach dem Pulli aus. Er faltete ihn vor sich auseinander, begutachtete ihn mit einer Miene, die sie nicht deuten konnte.
»Du musst ihn über den Kopf ziehen.« Fina flüsterte. »So wie dein Hemd.« Sie biss sich auf die Unterlippe, konnte es
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