Der Geheime Orden
ich bin seit fast dreißig Jahren an dieser Universität«, sagte er. »Ich habe in dieser Zeit sehr viel gehört und gesehen. Und als Pastor der Memorial Church bin ich mehr als ein Schriftgelehrter und Moraltheologe. Viele Studenten, die genau da saßen, wo Sie jetzt sitzen, haben mir ihr Herz ausgeschüttet und mir Einblick in eine Vielzahl von Problemen gegeben. Die besten Lehrer sind auch die besten Zuhörer, und ich bilde mir gern ein, dass ich mir im Laufe der Zeit eine gewisse Anerkennung bei den Studenten erarbeitet habe. Wenn Sie darüber einmal nachdächten, könnten Sie mir vielleicht vertrauen.«
Ich war kurz davor, mir eine Auszeit zu erbitten, um nach draußen laufen, Dalton anzurufen und ihn um Rat zu fragen. Aber ich hatte ein flaues Gefühl im Magen, dass Dalton mir nachdrücklich verbieten würde, das Buch zu erwähnen. Im Augenblick stand zu viel auf dem Spiel, und wir hatten noch viele Fragen, die wir beantworten mussten. Das Entscheidende war allerdings, dass wir immer noch nicht wussten, wie weit sich der Kreis der Eingeweihten erstreckte und wer dazugehörte. Ich befand mich auf dünnem Eis, also beschloss ich, Campbell gerade genug zu erzählen, um ihn von seiner Spur abzubringen.
»Ich habe den Abschnitt im Tagebuch eines Verstorbenen gefunden«, erklärte ich und sagte mir, dass es nichts schaden konnte, die Wahrheit ein bisschen zu teilen. »Aber wenn es Ihnen nichts ausmacht, möchte ich seine Identität nicht diskutieren. In der Beziehung bin ich ein wenig empfindlich.«
»Das steht Ihnen selbstverständlich völlig frei, Mr. Collins, und ich respektiere Ihre Entscheidung«, sagte Campbell. »Aber darf ich Sie fragen, ob der Verstorbene ein religiöser Mann war?«
»Ich weiß nie genau, was jemand meint, wenn er das Wort ›religiös‹ verwendet«, sagte ich. »Er glaubte an Gott und an die Notwendigkeit des Glaubens, aber wenn Sie mich fragen, ob er jeden Sonntag in die Kirche ging oder vor dem Einschlafen betete, kann ich Ihnen keine Antwort geben.«
»Aber er war Christ?«
»Ja, da bin ich mir sicher.«
»Hat er seltene Manuskripte gesammelt?«
Die Fragerei machte mich langsam nervös. Campbell besaß einen gefährlichen Intellekt. In diesem Moment war er nicht mehr der gelehrte und scharfsichtige Professor, sondern der charmante, alte Baptistenprediger, der an Informationen herankommen wollte. Ich spielte gerne mit, aber nur bis zu einem gewissen Punkt.
»Ich kannte ihn nicht gut genug, um diese Frage beantworten zu können«, sagte ich. »Ich hätte wahrscheinlich niemals in sein Tagebuch schauen sollen, aber ich habe es nun einmal getan. Man kann seine Neugier nicht immer im Zaum halten.«
»Sie sind ein ausgezeichneter Student mit einem bemerkenswerten akademischen Rüstzeug«, sagte Campbell. »Sie haben sich den Respekt und die Bewunderung vieler sehr wichtiger Leute erworben. Ich möchte nicht, dass Sie leichtfertig aufs Spiel setzen, was Sie sich so hart erarbeitet haben. Ich will damit nicht sagen, dass es ein Problem gibt, ich will mich nur vergewissern, dass Sie nicht in irgendwelche Schwierigkeiten geraten sind.«
»Ich muss viel für Mettendorfs Seminar tun, aber davon abgesehen läuft alles gut, Sir.«
»Ja, Harveys Kurse pflegen selbst die aufgewecktesten Studenten vor Probleme zu stellen«, sagte er. »Es bleibt allerdings die Frage, wie viel davon auf den Stoff zurückzuführen ist und wie viel auf ihn selbst.« Er lächelte milde.
Campbell griff nach unten und zog die Schublade eines Schreibtisches auf, der neben seinem Sessel stand. Er entnahm ihr ein zusammengefaltetes Blatt Papier, öffnete es und las es, bevor er es mir gab. »Das ist für Sie«, sagte er. »Als all meine anderen Anfragen zu keinen Ergebnissen geführt hatten, wandte ich mich an einen meiner ältesten Freunde. Hier sind sein Name und seine Telefonnummer.«
Ich faltete das Papier auseinander – Dr. Charles Davenport, Professor Emeritus, Theologische Fakultät, Harvard.
»Professor Davenport ist eines wahres Juwel dieser Universität«, sagte Campbell. »Er hat mehr religiöse Literatur des siebzehnten Jahrhunderts analysiert als jeder andere lebende Theologe. Vor einem Vierteljahrhundert war er Dekan der theologischen Fakultät, aber seit ein paar Jahren tritt er um einiges kürzer und verbringt nunmehr die meiste Zeit damit, nach Hause nach Deutschland zu reisen oder andere Universitäten in Europa zu besuchen, um Vorträge zu halten und jedes zweite Semester ein Seminar in
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