Der Geheime Orden
ging sogar so weit, dass sie diese Bedingung in ihrem letzten Willen erneut festschrieb und damit auf ewig zementierte.
Einige Jahre nach ihrem Tod wollte die Universität einen überdachten Gang zwischen der Widener- und der benachbarten Houghton-Bibliothek errichten lassen, damit Studenten und Lehrende nicht durch die bittere Kälte laufen mussten, wenn sie von der einen zur anderen wollten. Das war eine großartige Idee, sah man von einem kleinen Stolperstein ab – der Widener-Bedingung. Monatelang zermarterten sich die juristischen Halbgötter der benachbarten Harvard Law School und eine speziell ausgewählte Gruppe von Architekten das Hirn, um dem Dilemma zu entkommen. Der einzige Weg, die einschränkende Klausel zu umgehen, bestand darin, den Gang durch eines der riesigen Fenster im zweiten Stock der Widener-Bibliothek zu bauen. Auf diese Weise wurden keine Steine, sondern nur Glas verändert, und nicht gegen den letzten Willen Mrs. Wideners verstoßen.
Nachdem Dalton und ich die ersten Stufen bis zum Zwischengeschoss hinaufgestiegen waren, öffnete sich das Treppenhaus zu zwei schweren Eichentüren, die bis unter die Decke reichten. Dies war der Harry-Elkins-Widener-Raum, der seinem Namenspatron ge widmet war. Sein Untergang mit der legendären Titanic, der unglaubliche Reichtum der Wideners, die Besessen heit Mrs. Wideners, den Namen ihres Sohnes unver gesslich zu machen, weckten jedes Mal seltsame Gefüh le in mir, wenn ich dieses Zwischengeschoss erreichte.
Der Raum stand jeden Tag nur für ein paar Stunden offen; abends und an Wochenenden blieb er geschlossen. Eines Tages hatte ich mich dazu durchgerungen, den Raum zu betreten, weil ich hoffte, diesem unheimlichen Gefühl, das mich in seiner Nähe befiel, endgültig ein Ende zu bereiten. Nachdem ich durch die geöffneten Türen getreten war, befand ich mich in zwei höhlenartigen Räumen mit runden, gewölbten Decken, die eine gespenstische Stille erzeugten. Ich hatte irgendwo gelesen, dass der Widener-Raum mit englischer Eiche ausgestattet war, die man in England geschnitzt und in Einzelbrettern über den Atlantik verschifft hatte. Ein kostbarer Kronleuchter hing unter der gewölbten Rotunde und warf sein Licht auf die antiken, bleiverglasten Fenster, die einst mit denen im Vatikan verglichen worden waren.
Eine belesen aussehende Frau mittleren Alters saß hinter einem Tisch auf der linken Seite des Raumes, ganz in die akademische Zeitschrift vertieft, in der sie von Zeit zu Zeit blätterte. Bis ich sprach, hatte sie gar nicht bemerkt, dass ich eingetreten war.
»Hallo«, sagte ich leise.
Sie schaute mit verwirrten Augen auf. »Kann ich Ihnen helfen?«, fragte sie mit aufgesetztem Lächeln. Entweder war sie verärgert, weil ich sie bei ihrer Lektüre gestört hatte, oder sie war es nicht gewohnt, dass Studenten diese Sammlung seltener Bücher besuchten.
»Ich wollte mich nur mal umsehen«, sagte ich. »Ist das in Ordnung?«
»Überhaupt kein Problem«, sagte sie, erleichtert, dass mein zielloses Stöbern keine große Hilfe ihrerseits erfordern würde. »Keine Tintenfüller oder Bleistifte bitte, und wenn Sie sich für eines der Bücher an der hinteren Wand interessieren, wenden Sie sich bitte an mich.«
Ich nickte, während sie ihre Nase wieder in die Zeitschrift steckte. Ich trat näher an das grässliche Porträt heran, das den Raum von der Mitte der Rückwand aus überwachte. Ich sah in die eingefallenen, melancholischen Augen eines Fremden. Endlich stand ich dem legendären Namenspatron der Widener-Bibliothek von Angesicht zu Angesicht gegenüber. In sein verhärmtes, blasses Gesicht schien sein tragisches Ende in jungen Jahren bereits eingeschrieben zu sein.
Die verglasten Bücherregale beherbergten seine private Sammlung von 3 500 seltenen Bänden. Viele waren Erstauflagen berühmter europäischer Autoren. Das Hauptgewicht seiner Sammlung lag auf englischen Schriftstellern des 19. Jahrhunderts und illustrierten Büchern. Ich nahm mir eine der kleinen Broschüren, die auf die bibliophilen Perlen in diesem Raum aufmerksam machten. Am ausführlichsten wurde auf Exemplare von Shakespeares ersten Folioausgaben sowie die Gutenbergbibel eingegangen. Der Druck dieser Bibel wurde auf die Zeit zwischen 1450 und 1455 geschätzt. In Mainz gedruckt, demonstrierte sie den Erfolg einer neuen Technik, die Benutzung beweglicher Lettern. Die Wideners hatten diese Schätze 1944 der Bibliothek gestiftet.
Die zugige Kühle, der dunkle Teppich und die
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