Der Geheime Orden
verliebt.
»Sie soll zu Hause einen festen Freund haben«, sagte ich. »Einen Nachwuchs-Quarterback von der University of South California.«
»Ich hab sie vor ein paar Wochen das erste Mal gesehen«, sagte Dalton, »und konnte die Augen nicht mehr von ihr losreißen.«
»Hast du mit ihr gesprochen?«
»Nee, sie war in einer größeren Gruppe unterwegs. Ich habe noch nie ein Mädchen gesehen, das in Jogginghosen so gut aussah. Besser als Nicholetti.«
Andrea Nicholetti war Kapitän der Universitätsfußballmannschaft und stolze Besitzerin der hübschesten Beine, die jemals über den Campus von Harvard gelaufen sind. Ihr Foto zierte den neuesten Kalender der Fußballmannschaft; binnen einer Woche waren sämtliche Kalender gestohlen, die in den Läden um den Square herum an den Wänden hingen.
»Nichts gegen Nicholetti, aber du solltest Minter mal in Shorts sehen«, sagte ich. »Sie hat Beine bis zum Hals.«
Minters Mutter war eine Künstlerin aus Ghana und ihr Vater ein irischer Einwanderer, der Lyrik an der Universität von Los Angeles lehrte. Der Harvard Crimson hatte bereits mehrere Artikel über sie gebracht, obwohl die Volleyballsaison noch nicht einmal begonnen hatte. Sportexperten der überregionalen Zeitungen lancierten ihren Namen bereits für die nächste Olympiamannschaft.
»Wenn ich sie das nächste Mal sehe, werde ich etwas sagen«, versprach Dalton, »ganz egal, ob jemand dabeisteht oder ob sie einen Freund hat oder nicht. Außerdem ist Kalifornien weit weg, erst recht im langen, kalten Bostoner Winter.«
Wir bogen zur Widener-Bibliothek ab und stiegen die breiten grauen Granitstufen hinauf. Die kleinen Fenster in den oberen Stockwerken, hinter denen die schlauen Examenskandidaten die ganze Nacht an ihren Abhandlungen feilten, deren Titel unsereins kaum aussprechen, geschweige denn verstehen konnte, waren hell erleuchtet. Ich fragte mich oft, ob es einen unausgesprochenen, aber allgemein bekannten Zusammenhang zwischen der Länge und Komplexität der Titel und der Höhe der Note gab, die diese Abhandlungen am Ende erhielten.
Dalton blieb stehen und betrachtete die riesigen Säulen vor dem Eingang zur Bibliothek. »Irgendwo in einem dieser Stockwerke, in irgendeiner Ecke dieses Kolosses, könnte die Antwort auf unsere Frage verborgen sein«, sagte er und legte einen Arm um meine Schulter. »Komm, lass uns hineingehen und unseren Auftrag erfüllen, Kamerad.«
Wir passierten die Eingangskontrolle, wobei wir in Daltons Tasche drei Dosen Limonade, ein paar Schokoriegel und eine Wolldecke hineinschmuggelten, um der scharfen Zugluft zwischen den Regalen zu begegnen. Ganz gleich, wie oft ich die riesigen Marmortreppen zum ersten Stock schon hinaufgeklettert war, ich war immer wieder überwältigt von der schieren Größe des Gebäudes. Widener besitzt die drittgrößte Büchersammlung der Nation, übertroffen nur von der Kongressbibliothek und der Stadtbibliothek von New York, und wie alles andere in Harvard hatte auch Widener ihre eigene Geschichte. Mit dem Bau der Bibliothek wurde 1912 begonnen, nach einer Zwei-Millionen-Dollar-Spende von Mrs. Eleanor Widener an die Universität. Sie hatte das Geld großzügigerweise zur Erinnerung an ihren verstorbenen Sohn gespendet, Harry Elkins Widener, Abschlussjahrgang 07, der sein tragisches Ende im Frühjahr 1912 gefunden hatte, als er von einer seiner vielen Exkursionen nach Europa zurückkehrte, auf denen er seltene Bücher für seine Sammlung zu erwerben pflegte. Er und sein Vater wollten auf der Titanic von England in die USA zurückkehren, gingen aber mitsamt ihren vielen seltenen, neu erworbenen Büchern unter. Die Legende besagte, dass Harry Widener gerade in ein Rettungsboot steigen wollte, als ihm eines seiner unlängst gekauften Bücher in den Sinn kam, ein seltenes Exemplar der zweiten Auflage von Bacons Essays aus dem Jahre 1598. Trotz der Proteste seines Vaters rannte er zurück, um das Buch zu retten, und wart nie wieder gesehen.
Mrs. Widener zeigte sich bereit, eine große Summe Geldes zu spenden, jedoch nur, wenn Harvard sich einer ganzen Litanei vertraglicher Bedingungen unterwarf. Am meisten Kopfschmerzen bereitete der Universität die »Keine-Veränderungen-Klausel«. Diese schrieb vor, dass die Außenwände der Bibliothek, nachdem sie 1914 vollendet war, für immer bleiben mussten, wie sie waren – »kein Stein, kein Ziegel oder gemauertes Stück darf verändert werden«, wie es in der Juristensprache ausgedrückt wurde. Mrs. Widener
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