Der Geheime Orden
überwältigt«, sagte sie, blätterte um und las weiter.
Als ich näher herantrat, sah ich, dass sie Lockes Second Treatise of Government las. Es war also nicht die neueste Ausgabe von Glamour, die sie durchblätterte. Ich muss gestehen, dass ich nicht nur überrascht, sondern auch beeindruckt war.
»Lockes Second Treatise«, sagte ich. »Das ist ja ganz schön schwerer Stoff.«
»Was soll denn das schon wieder heißen?«, sagte sie und durchbohrte mich mit Blicken. Sie war ausgesprochen geschickt darin, anderen das Gefühl zu geben, nur fünf Zentimeter groß zu sein.
»Ich wollte nur sagen, das Locke nicht gerade … also, ich habe das Buch schon einmal gelesen, und … da gibt es eine Menge Informationen, die …«
»Spuck’s schon aus.«
»Es ist ein schwieriges Buch«, stotterte ich.
»Und ich wäre gut beraten, lieber Comics zu lesen. Sag einfach, was du denkst. Warum liest diese Küchenmamsell John Locke?«
Genau das dachte ich in der Tat, aber ich war nicht dumm genug, auch nur die leiseste Andeutung zu machen, dass dieser Gedanke mich möglicherweise kurz gestreift haben könnte. Stattdessen schüttelte ich entrüstet den Kopf. Sie schlug das Buch zu und nahm ein anderes aus dem Regal, Rousseaus Gesellschaftsvertrag.
»Wie lange arbeitest du schon im Eliot?«, fragte ich.
»Es war mein erstes und hoffentlich auch letztes Mal.«
»Du hast gekündigt?«
»Nein, ich bin Springer. Ich helfe dort aus, wo sie mich an dem Abend gerade brauchen.«
»Und wo arbeitest du am häufigsten?«
»Ich habe erst letzten Monat angefangen. Sie schicken mich überallhin.«
Sie wandte sich wieder dem Gesellschaftsvertrag zu, und ich suchte verzweifelt nach einer Möglichkeit, das Gespräch am Leben zu erhalten. Dann fragte ich wie aus dem Nichts: »Magst du hausgemachtes Eis?«
Sie starrte mich an, als hätte ich drei Köpfe. »Was soll denn diese Frage?«
»Emack and Bolio’s haben in dieser und der nächsten Woche ein spezielles Angebot. Wenn du eine Kugel kaufst, bekommst du eine zweite gratis dazu.« Emack & Bolio’s war die beliebte Eisdiele am Square, deren Eis so lecker war, dass sie Leute aus ganz Boston anzog, sogar mitten im Winter, wenn die Eiszapfen von ihrem Schild herunterhingen.
»Der letzte der großen Spendierer«, sagte sie. »Du weißt wirklich, wie man ein Mädchen beeindrucken kann.«
»Warum ein gutes Geschäft sausen lassen?«
»Ich muss jetzt gehen«, sagte sie. »Ich habe in einer Stunde ein Seminar.«
»Du studierst?«
»Sei jetzt bloß nicht enttäuscht, dass ich nicht den ganzen Tag in der Küche stehe.«
»Das ist es nicht. Ich wusste nur nicht …«
»Ja, ich weiß. Für die meisten von euch Jungs bin ich das Mädchen aus dem Speisesaal.«
»Wo studierst du?«
»Weit weg von hier, Gott sei Dank.«
»Wo?«
»Spielt doch keine Rolle. Der Name wird dir sowieso nichts sagen.«
»Frag mich«, sagte ich.
Sie seufzte und sagte: »RCC.«
Ich grub wild in meinem Gedächtnis und betete, dass ich schon einmal davon gehört hätte. Nachdem ich nichts gefunden hatte, nickte ich und sagte: »Ein supergutes College.«
»Quatsch«, sagte sie. »Es ist ein öffentliches College. Du musst an deinen Bluffs noch arbeiten, Harvardmann.«
»Was ist mit dem Eis?«, fragte ich.
»Ich mag Schoko und Keks«, sagte sie und wandte sich zum Gehen. »In der Waffel.«
Nachdem sie verschwunden war, schlich ich mit einem breiten Lächeln im Gesicht die Hintertreppe hinunter. Es war das erste Mal, dass ich Dankbarkeit gegenüber Harvey C. Mettendorf empfand.
Der zweite Umschlag erreichte mich auf ebenso geheimnisvolle Weise wie der erste. Percy hatte sich in seinem Zimmer verschanzt und holte den Schlaf nach, auf den er während einer langen Partynacht im Hasty Pudding Club verzichten musste, während ich auf dem Weg zu meiner morgendlichen Chemievorlesung war. Dalton hatte mir erzählt, dass es bis zu einer Woche dauern konnte, bis man die nächste Einladung erhielt, und wenn ich bis dahin keine hätte, könnte ich mich als gescheiterten Kandidaten betrachten. Nur zwei Drittel der Anwärter konnten mit dem Glück rechnen, zur nächsten Runde eingeladen zu werden.
Derselbe Umschlag und dasselbe Briefpapier. Dieselbe sorgfältige Kalligraphie. Es gab keine Briefmarke oder Poststempel.
Präsident und Mitglieder des Delphic Club laden
Sie herzlich zu ihrem jährlichen Ausflug ein.
Sonnabend, den 3. November. Bringen Sie b itte eine zusätzliche Garnitur Freizeitkleidung u nd
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