Der geheime Zirkel 01 - Gemmas Visionen
und schreckliche? Eine Geistergeschic h te?«
Die Stimme, ein schwaches Echo in der riesigen Höhle, gehört Felicity. Sie dreht sich auf ihrem Fe l sensitz herum, wendet uns das Gesicht zu und schlingt die Arme fest um ihre angezogenen Knie. »Seid ihr bereit? Kann ich anfa n gen? Es waren einmal vier Mädchen. Eine war hübsch. E i ne war klug. Eine charmant und eine …« Sie sieht mich an. »Eine war geheimnisvoll. Aber sie alle waren beschädigt, versteht ihr. Jede hatte irgendeinen Fehler. Schlec h tes Blut. Verrückte Träume. Oh, das Wichtigste habe ich ausgela s sen. Tut mir leid, das hätte vorher ko m men sollen. Die vier Mädchen waren allesamt Trä u merinnen.«
»Felicity …« , sage ich, denn sie beginnt, mir Angst zu machen, sie selbst, nicht die Geschichte.
»Ihr wolltet eine Geschichte hören und ich erzähle euch eine.« Der Widerschein eines Blitzes zuckt über die Hö h lenwand und taucht die eine Hälfte von Fel i citys Gesicht in Licht, die andere in Schatten. »Nacht für Nacht kamen die Mädchen zusammen. Und sie sündigten. Wisst ihr, was ihre Sünde war? Niemand? Pippa? Ann?«
»Felicity …« Pippa geht nicht darauf ein. Stattdessen sagt sie ängstlich: »Lasst uns zurückgehen und eine schöne Tasse Tee trinken. Es ist zu kalt hier draußen.«
Felicitys Stimme schwillt an, füllt den ganzen Raum. »Ihre Sünde war, dass sie sich etwas vo r machten. Sie glaubten, sie k önnten anders sein. B e sonders. Sie glaubten, sie könnten die Dinge ändern. Sich ändern. Aufhören, das zu sein, was sie waren. Beschädigt. Ungeliebt. Außenseit e rinnen. Jemand anders werden –lebendig, beliebt, bewu n dert. Aber das stimmte nicht. Ich sagte ja, es ist eine Gei s terg e schichte. Eine Tragödie.«
Wieder ein Blitz, ein gewaltiger, eine, zwei, drei Seku n den, in denen ich Felicitys Gesicht sehe, tr ä nenüberströmt, mit tropfender Nase. »Sie wurden irregeführt. Betrogen von ihren eigenen dummen Hoffnungen. Nichts konnte sich ändern, weil sie nämlich gar nicht besonders waren. Und so holte sie die Wirklichkeit ein und sie gingen ihren vorg e zeichneten Weg. Versteht ihr? Sie schwanden vor ihren eigenen Augen dahin, bis sie nichts anderes mehr w a ren als lebende Geister, die einander auf jede mögliche und unmögliche Weise quälten.« Felicitys Stimme ist nur noch ein Hauch. »Ist das nicht die schaurigste Geschichte, die ihr je gehört habt?«
Das erbarmungslose Prasseln des Regens mischt sich mit Felicitys ersticktem Schluchzen. Ann hat aufgehört, ihre Hände zu martern. Jetzt starrt sie über die Flamme auf die Höhlenwände, die Zeugnis von der frühen Geschichte des Menschen ablegen und nichts versprechen. Pippa dreht u n ablässig den Ve r lobungsring an ihrem Finger, sodass mir ganz schwindelig wird.
Vielleicht ist es das gleichförmige Rauschen des Regens, das mich langsam verrückt macht. Vielleicht der Gedanke an die schöne Pippa, die an einen Mann verheiratet wird, den sie nicht liebt und der sie nicht liebt, der sie nur in se i nen Be s itz bringen will. Vie l leicht ist es die Vorstellung, dass Ann ihre Stimme verkümmern lässt, um sich für hochnäsige Aristokr a ten und ihre abscheulichen Kinder aufzuopfern. Oder Felicity, die versucht, ihre Tränen z u rückzuhalten. Oder die Tatsache, dass jedes Wort, das sie gesagt hat, wahr ist.
Wie auch immer, es gibt nur einen Ausweg, nä m lich die Magie aus dem Magischen Reich hierher zu bringen. Ich denke an all die Mütter heute Nachmittag mit ihren aufg e putzten Kleidern und ihrem u n ausgefüllten Leben. Und ich denke an die Warnung meiner Mutter, dass ich noch nicht reif sei, um meine magischen Kräfte voll zu nutzen.
Aber ich bin es, Mutter. Ich bin es.
Draußen grollt ein gewaltiger Donner wie zur Warnung. Rings um mich im Halbdunkel der Höhle sind die in den Felsen geritzten Symbole, eingeätzt mit dem Blut und dem Schweiß von Frauen, die vor uns hier waren. Sie scheinen mir etwas zuzuflüstern.
Glaub an dich.
Ich sehe den Glanz von Pippas ungewolltem Ring. Höre, wie Ann angestrengt durch den Mund atmet. Fühle die stumme, aus dem uneingestandenen Wunsch geborene Verzweiflung.
Es muss etwas Besseres geben.
Meine Stimme steigt zum Dach der Höhle auf und schlägt einen Vogel in die Flucht.
»Es gibt einen Weg, die Dinge zu ändern …«
28. Kapitel
» B i st du sicher, dass du weißt, wie du mit diesen Kri s tallen umzugehen hast?«, fragt Ann, während wir die Kerzen in der Mitte des Kreises
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