Der geheime Zirkel 01 - Gemmas Visionen
taktlos, Cecily. Wusstest du das? Ich denke, es wäre am besten, wenn du heute überhaupt nichts mehr sagst.«
Cecily öffnet den Mund zu einer schnippischen Beme r k ung, aber es kommt kein Wort heraus. Sie bringt nicht mal ein Flüstern zustande. Entsetzt fasst sie sich an die Kehle.
»Cecily, was ist los?« Elizabeth reicht ihr ein Glas Wasser.
»Katzen haben ihre Zunge gefressen«, sagt Felicity gri n send.
»Fee, du musst Cecily irgendwann ihre Stimme wiede r geben«, sagt Pippa tadelnd auf dem Weg zum Französisc h unterricht.
Felicity nickt. »Ich weiß. Aber ihr müsst zugeben – es ist eine Verbesserung.«
Mademoiselle LeFarge empfängt uns mit einem ausgespr o chen sadistischen Lächeln, das nichts G u tes verheißt.
»Bonjour, mes filles. Heute wollen wir Konversation machen, um Ihr Französisch zu testen.«
Eine Konversationsstunde. Das ist für mich das Alle r schlimmste und ich frage mich, wie lange ich es schaffe, unbemerkt zu bleiben.
Elizabeth hebt die Hand. »Mademoiselle, die arme Cec i ly hat ihre Stimme verloren.«
»Ach, wirklich? Das kam aber sehr plötzlich, Mademo i selle Temple.«
Wieder versucht Cecily zu sprechen, doch vergeblich. Ann grinst ein bisschen und Cecily ist kreid e bleich. Sie steckt ihre Nase in ihr Buch.
»Nun gut«, sagt Mademoiselle LeFarge. »Mad e moiselle Doyle, Sie machen den Anfang.«
Das hat mir gerade noch gefehlt. Bitte, bitte, bitte, sende mir einen Geistesblitz. Mein Magen flattert. Vielleicht ist genau heute der Tag, an dem mir M a demoiselle einen Tritt geben und mich in eine niedr i gere Klasse versetzen wird. Sie schmettert mir eine Frage über Paris entgegen und wa r tet auf meinen Rückschlag. Wir alle sind verblüfft, als ich den Mund aufmache. Ich spreche französisch wie eine P a riserin und stelle fest, dass ich eine Menge über die Stadt weiß. Und über Frankreich im Allgemeinen. Seine G e schichte. Die Französische Revolution. Ich fühle mich so sicher, dass ich immer weiterreden möchte, aber schlie ß lich erholt sich Mademoiselle LeFarge von ihrem Schock und durchbricht ihre e i genen Spielregeln.
»Das war bemerkenswert, Mademoiselle Doyle! Wir k lich bemerkenswert«, stößt sie auf Englisch hervor. »Hier sehen Sie, meine Damen, was Sie e r reichen können, wenn Sie sich wirklich verbessern wollen. Die Ergebnisse spr e chen für sich selbst! Mademoiselle Doyle, Sie erhalten dreißig Pluspun k te für gute Führung –ein Rekord in meinem Unte r richt!«
Martha, Cecily und Elizabeth sitzen mit aufgesperrten Mündern da. Vielleicht sollte jemand ein gutes Werk tun und sie ihnen zuklappen, bevor der nächste Regen kommt.
»Was machen wir jetzt?«, flüstert Pippa, als wir für die Musikstunde bei Mr Grünewald unsere Plätze einnehmen.
»Ich denke, jetzt ist Ann am Zug«, sage ich.
Ann blickt verzagt drein. »Ich? Ich w-w-weiß nicht …«
»Komm schon. Möchtest du nicht, dass alle wi s sen, was du kannst?«
Ann runzelt die Stirn. »Aber das werde ja dann nicht ich sein, oder? Das macht dann die Magie. Wie bei deinem Französisch.«
Meine Wangen werden heiß. »Es ist ein bisschen mit mir durchgegangen. Aber du kannst wirklich si n gen, Ann. Du wirst dein Allerbestes geben, du ganz allein.«
Ann ist skeptisch. Sie kaut nervös an ihren Lippen. »Ich glaube nicht, dass ich das kann.«
Wir werden unterbrochen, weil der kleine, untersetzte Österreicher den Klassenraum betritt. Mr Gr ü newald ist für gewöhnlich in einer von zwei Launen –in mieser oder noch mieserer. Heute übertrifft er sich selbst. »Schluss jetzt mit dem Geschwätz!«, brüllt er und fährt sich dabei mit den Fingern durch sein schütteres weißes Haar. Eine nach der anderen wird nach vorn gerufen, um jeweils dasselbe Lied vorzutragen. Einer nach der anderen haut er seine Kr i tik um die Ohren, die fast einem Todesurteil gleichkommt. U n sere Intonation ist unsauber. Unsere Ko n sonanten sind zu unartikuliert. Ich verfehle einen hohen Ton und er stöhnt laut auf, als würde er gefo l tert. Schließlich ist Ann an der Reihe.
Die ersten Töne kommen nur zaghaft heraus. Mr Gr ü newald verdreht die Augen, was naturgemäß nicht hilft. Ich zwinge Ann praktisch meinen Willen auf, ihrer Stimme freien Lauf zu lassen. Sing, Ann. Los, komm schon. Und dann tut sie es. Ihre Stimme ist wie ein Vogel, der sein Nest verlässt und sich hoch und höher in die Lüfte schwingt. Wir alle s ind still und stumm vor Bewunderung. Sogar Mr Grünewald starrt
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