Der geheime Zirkel 01 - Gemmas Visionen
ähnlich dem Zelt eines Scheichs. Sie erzählt i r gendetwas und die and e ren hängen an ihren Lippen. Ich habe keine Ahnung, um was für aufregende Dinge es sich handelt, denn ich bin ja nicht eingeladen. Nicht, dass ich eingeladen sein möchte. Nicht sehr, jede n falls.
Ann ist nirgends zu sehen. Ich kann nicht wie eine Schwachsinnige mitten im Raum stehen bleiben, also suche ich mir einen ruhigen Platz in der Nähe des prasselnden Feuers und schlage das Tagebuch meiner Mutter auf. Heute Abend bin ich in der Stimmung, mich zu quälen. Im Schein des Feuers tanzt Mutters elegante Handschrift auf den Se i ten. Es ist überraschend, wie mir der bloße Anblick der Worte auf P a pier die Tränen in die Augen treibt. So vieles von ihr hat bereits angefangen zu verblassen. Ich möchte es festhalten. Also lese ich, überfliege Seite um Seite Berichte über Teegesellschaften, Tempelbesuche und Haushaltsli s ten, bis ich zu ihrem allerletzten Eintrag komme.
2. Juni – Gemma ist schon wieder böse auf mich. Sie will unbedingt nach London. Dieser eiserne Wille ist furchte r regend und ich bin von unseren Streitereien ziemlich e r schöpft. Was wird ihr Geburtstag bri n gen? Das Warten ist zermürbend und es schmerzt mich zutiefst, dass sie mich so verabscheut.
Die Sätze fließen im Strom meiner Tränen zusammen. Ich wünschte, ich könnte zurückfahren und alles ungesch e hen machen.
»Was tust du?«, fragt Ann, während sie sich über mich beugt.
Ich wische mir mit dem Handrücken über meine nassen Wangen, halte den Kopf gesenkt. »Nichts.«
Ann setzt sich und zieht eine Strickarbeit aus i h rem Korb. »Ich lese auch gern. Hast du je Lucys do r niger Weg. Die wahre Geschichte eines Mädchens gelesen?«
Nein. Sicher nicht. Ich kenne die Art von Büchern, die sie meint – billiger, sentimentaler Kitsch über arme verst o ßene Mädchen, die über alle Schicksalsschläge triumphi e ren, ohne je ihre allseits so hoch geschätzte, reizende, güt i ge weibliche Sanftheit einzubüßen. Alles in allem das g e naue Gegenteil von mir. Ich kann meinen Groll nicht lä n ger zurückha l ten.
»Ah ja, warte«, antworte ich. »Ist es nicht das, wo die Heldin ein armes, ängstliches Mädchen ist, das von allen tyrannisiert wird, weil sie so eine trübe Tasse ist? Sie liest den Blinden vor oder zieht einen lahmen Bruder auf oder einen blinden und lahmen Bruder. Und am Ende stellt sich heraus, dass sie in Wirklichkeit eine Herzogin ist oder sich so gema u sert hat, dass ein Prinz um ihre Hand anhält. Und das alles, weil sie ihr Los lächelnd und im Geiste christl i cher Nächstenliebe ertragen hat. Was für ein Quatsch!«
Die Stick-und-Tratsch-Gruppe hat alles mit ang e hört und kichert vor wonniger Entrüstung über mein schlechtes B e nehmen.
»Es könnte geschehen«, sagt Ann sanft.
»Ehrlich«, sage ich mit einem brüchigen Lachen, als wol l te ich mich für die Grobheit meiner Worte entschuld i gen. »Kennst du irgendwelche Waisenmädchen, die aus i h rem tristen Dasein erlöst und zu Herzoginnen gemacht wu r den?« Nimm dich zusammen, Gemma. Du darfst nicht we i nen.
Anns Stimme gewinnt an Entschiedenheit. »Aber es könnte doch möglich sein. Oder nicht? Eine Wa i se, von der niemand viel erwartet, die in eine Schule gesteckt wird, weil ihre Angehörigen sie als eine Last empfinden, ein Mädchen, das von den anderen Mädchen wegen seines Mangels an Grazie, Charme und Schönheit ausgelacht wird … dieses Mädchen könnte es ihnen allen einmal zeigen.«
Sie starrt ins Feuer und strickt wie wild drauflos, die Nadeln schlagen klappernd aneinander, zwei spitze Zähne in der Wolle. Zu spät wird mir klar, was ich getan habe. Ich habe mitten ins Herz von Anns Hoffnung getroffen, der Hoffnung, sie könnte ein anderer Mensch werden, jemand, der nicht den Rest seiner Tage damit wird verbringen mü s sen, als Gouvernante die Kinder irgendeines reichen Ma n nes zu erziehen, sie auf ein wundervolles Leben und auf Chancen vorzubereiten, die sie selbst nie haben wird.
»Ja«, sage ich mit heiserer Stimme. »Ja. Ich gla u be schon, dass es möglich ist.«
»Diese Mädchen, die sie … die Lucy so falsch eing e schätzt haben. Eines Tages könnte es ihnen allen sehr lei d tun, nicht wahr?«
»Ja, gewiss«, stimme ich zu. Ich weiß nicht, was ich sonst n och sagen soll, also sitzen wir da und be o bachten das Prasseln und Funkensprühen des Feuers.
Schallendes Gelächter lenkt unsere Aufmerksa m keit auf die gegenüberliegende
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