Der geheime Zirkel 01 - Gemmas Visionen
a r beiteten und Babys zur Welt brachten. Aber das machte sie verdächtig. Frauen, die Macht haben, werden immer g e fürchtet«, sagt sie traurig.
Ich frage mich, wieso Miss Moore hier ist und uns be i bringt, hübsche Bilder zu malen, statt in der Welt draußen zu leben. Sie ist nicht unattraktiv. Sie hat ein warmes, freundliches Gesicht, ein spontanes Lächeln und eine schlanke Figur. Die Brosche an ihrem Kragen ist mit Rub i nen besetzt, was darauf schließen lässt, dass sie nicht mi t tellos ist.
»Ich finde, sie sind außergewöhnlich«, sagt Felic i ty, während sie ihre Laterne näher an die Wand hält. Ihre Fi n ger gleiten über eine Silhouette –eine Frau mit dem Kopf einer Krähe, flankiert von zwei weit e ren Krähenfrauen, die teilweise schon von der Zeit ausradiert wurden.
»Huh, das ist ziemlich grausig«, sagt Cecily. Schatten zucken über ihr Gesicht und einen Auge n blick lang kann ich mir vorstellen, wie sie als alte Frau aussehen wird –irgendwie hager und dünn mit einer großen Nase.
Miss Moore betrachtet die Zeichnung. »Diese sonderb a re Dame ist wahrscheinlich mit der Morr i gan verwandt.«
»Der was?«, fragt Pippa, mit den Wimpern klimpernd und mit einem Lächeln, für das Männer zwe i fellos bereit wären, ihr die Sterne vom Himmel zu holen.
»Die Morrigan. Eine alte keltische Kriegs - und Tode s göttin. Sie war sehr gefürchtet. Es heißt, man habe ges e hen, wie sie die Kleider derjenigen wusch, die im Kampf sterben würden, und danach sei sie über das Schlachtfeld geflogen und habe in ihrem Wüten die Schädel der Getöt e ten mit sich geno m men.«
Cecily schüttelt sich. »Warum sollte sie jemand verehren wollen?«
»Haben Sie keinen Kampfgeist, Miss Temple?«, fragt Miss Moore.
Cecily ist entsetzt. »Hoffentlich nicht. Wie … unattra k tiv.«
»Wie kommen Sie darauf?«
»Na ja.« Cecily fühlt sich sichtlich nicht wohl in ihrer Haut. »Es ist wie … als wäre man ein Mann, nicht wahr? Eine Frau sollte niemals so gegen ihre Natur handeln.«
»Aber ohne den Funken Zorn, ohne Vernichtung kann es keine Wiedergeburt geben. Die Morrigan wurde auch mit Stärke, Unabhängigkeit und Fruch t barkeit assoziiert. Sie war die Hüterin der Seele, bis diese wiedergeboren wurde. Sagt man jedenfalls.«
»Wer sind diese Frauen da?« Ann zeigt mit dem Finger auf die verwitterten Zeichnungen.
»Die Morrigan war eine dreifache Göttin, sie ve r körperte in einer Person die schöne Jungfrau, die li e bende Mutter und das blutdürstige Weib. Sie konnte jederzeit ihre Gestalt wechseln. Wirklich faszini e rend.«
Felicity fragt unverfroren: »Wie kommt es, dass Sie so viel über Göttinnen und diese Dinge wissen, Miss Moore?«
Ich erwarte, dass Felicity für diese Frechheit einen geh ö rigen Rüffel bekommen wird. Aber Miss Moore spricht langsam und bedächtig. »Ich weiß es, weil ich lese.« Die Hände in die Hüften gestemmt, sieht sie uns der Reihe nach herausfordernd an. »Darf ich I h nen allen vorschlagen zu lesen? Viel und oft. Gla u ben Sie mir, es ist schön, über etwas anderes reden zu können als über das Wetter und die Gesundheit der Königin. Ihr Geist ist kein Käfig. Er ist ein Ga r ten. Und der gehört kultiviert. Nun ja, ich denke, für heute haben wir genug von der Mythologie. Wir wo l len ein bisschen zeichnen, einverstanden?«
Pflichtschuldig holen wir unsere Skizzenblöcke und Kohlestifte hervor. Sofort beschwert sich Pippa, dass es in der Höhle zu heiß zum Zeichnen sei. Die Wahrheit ist, dass sie nicht zeichnen kann. Übe r haupt nicht. Alles, was sie beginnt, sieht am Ende aus wie ein Haufen Felsbl ö cke. Aber das würde sie niemals zugeben. Ann geht mit ihrem gewohnten Perfektionismus ans Werk und setzt kleine, vorsichtige Striche aufs Blatt. Mein Kohlestift fliegt übers Papier, und als ich fertig bin, habe ich die Gestalt der Jag d göttin flüchtig eingefangen, den Speer in der Hand, ein Reh, das vor ihr herläuft. Das Bild scheint mir zu leer, also füge ich noch ein paar eigene Sy m bole hinzu. Bald ist der untere Rand des Blattes mit dem Mond-und-Auge-Symbol an der Halskette me i ner Mutter gefüllt.
»Sehr interessant, Miss Doyle.« Miss Moore schaut mir über die Schulter. »Sie haben das Auge des aufgehenden Mondes gemalt.«
»Es gibt einen Namen dafür?«
»O ja. Das ist ein sehr berühmtes Symbol. Ein bisschen wie die Pyramide der Freimaurer.«
»Es ist wie die seltsame Halskette, die du trägst«, ruft Ann aus.
Die Mädchen starren
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