Der geheime Zirkel 01 - Gemmas Visionen
merkwürdigen Ausdruck, als hätte sie ein Déjà-vu .
»Kommt schon, Mädchen«, ruft sie. »Trödelt nicht.«
»Trödeln? Ich bekomme kaum Luft bei diesem Galopp«, schnauft Felicity.
»Seit wann unterrichtet Miss Moore schon in Spence?«, frage ich.
»Sie ist seit vergangenem Sommer hier. Sie hat etwas frischen Wind in diese öden alten Mauern g e bracht, das kann ich dir sagen. Oh, was ist das?«, sagt Felicity.
»Was ist was?«, frage ich.
»Dieser Stofffetzen in deinem Mieder. Ein bisschen ze r rissen. Pfui, und schmutzig. Wenn du ein sauberes T a schentuch brauchst, musst du ’ s nur s a gen. Ich habe ganze Stapel davon.«
Sie legt den Fetzen in meine offene Hand. Er ist aus blauer Seide, an den Rändern ausgefranst und verschmutzt, als wäre er an einem Ast hängen geblieben und abgerissen. Meine Beine zittern so heftig, dass ich mich an den näch s ten Baum lehnen muss.
Felicity schaut verwirrt drein. »Was ist los?«
»Nichts«, sage ich mit erstickter Stimme.
»Als hättest du einen Geist gesehen.«
Das könnte gut möglich sein.
Die schmutzige blaue Seide ist ein Versprechen in me i nen Händen. Meine Mutter war hier. Ich würde sie mit a l ler Kraft herbeiwünschen. Das war ’ s, was ich gesagt habe, bevor ich eingeschlafen bin. I r gendwie habe ich die Dinge geändert. Mit dieser seltsamen Kraft, die mir zu eigen ist, habe ich meine Mutter zurückgeholt. Jetzt will ich alles darüber wi s sen. Wenn Kartik es mir nicht sagt, werde ich es selbst herausfinden. Ich werde Mary Dowd ausfindig machen und sie dazu bringen, mir zu sagen, was ich wissen muss. Niemand kann mich davon abhalten.
Felicity zieht mit einem Ruck an meiner Hand. »Ich komme schon«, sage ich und beschleunige me i ne Schritte, bis ich aus den Bäumen heraustrete und wieder an der warmen Sonne bin.
11. Kapitel
N a ch dem Abendessen behaupte ich ; Kopf schme r zen zu haben, und Mrs Nightwing schickt mich gerad e wegs mit einer Wärm flasche ins Bett. Das bedeutet, dass ich Felicitys Einladung in ihr He i ligtum verpasse, die ich meinem neuen Status als Gehei m nisbewahrerin ve r danke. Aber mein Kopf wird von einem ganz anderen Gedanken beherrscht: Es muss einen Weg g e ben, meine Visionen zu kontrollieren.
Ich bin schon im Flur, als ein leises, dumpfes Geräusch meine Aufmerksamkeit auf sich zieht. Jemand ist in me i nem Zimmer. Mit pochendem Herzen, den Rücken flach an die Wand gepresst, schleiche ich mich heran, um hineinz u schauen. Kartik steht an meinem Schrei b tisch, zweifellos um mir eine weitere rätselhafte Warnung zu hi n terlassen. Aber dieses Mal entkommt er mir nicht. Mit e i nem Sprung bin ich beim offenen Fenster, durch das er hereingeko m men ist, und verriegle es. Er wi r belt herum, kampfbereit.
»Jetzt führt nur ein Weg hinaus«, sage ich atemlos.
Seine Augen werden schmal. »Treten Sie beise i te.«
»Nicht, bevor Sie mir ein paar Fragen beantwortet h a ben.« Ich habe ihm den einzigen Fluchtweg abg e schnitten. Wenn ich schreie, wird er geschnappt werden. Im Auge n blick sitzt er in der Falle. Er verschränkt die A r me vor der Brust, schaut mich groß an und wartet.
»Was tun Sie in meinem Zimmer?«
»Nichts«, sagt er, während er das Papier in seiner Faust geräuschvoll zusammenknüllt.
»Wollten Sie mir eine neue Botschaft hinterla s sen?«
Er zuckt die Achseln.
Ich habe Zeit.
»Warum haben Sie mir heute im Wald geholfen?«
»Weil es nötig war.«
Mein Zorn flammt auf. »Das war es ganz b e stimmt nicht.«
Er verzieht das Gesicht zu einem spöttischen Grinsen, was ihn weniger bedrohlich aussehen lässt. Jetzt ist er wi e der der halbstarke Siebzehnjährige. »Wie Sie meinen.«
»Mein Plan hat funktioniert, oder nicht?«
Er lässt die Arme sinken. Seine Augen werden ernst. »Ihr Plan hat funktioniert, weil ich Ithal übe r redet habe zu gehen. Was wäre passiert, wenn er es nicht getan hätte? Was glauben Sie?«
Die Wahrheit ist, ich weiß es nicht. Mir fällt keine An t wort ein.
»Genau. Ich werd ’ s Ihnen sagen. Dieser eigensinnige Zigeuner wäre dageblieben und Ihre kleine Freundin, die so gern mit dem Feuer spielt, hätte sich böse verbrannt. Sie wäre von der Schule verwiesen worden und für den Rest ihres Lebens gesellschaf t lich ruiniert.« Er imitiert die hohe, affektierte Stimme einer Dame der feinen Gesellschaft. »Oh, haben Sie das schon gehört? –Ach ja, meine Teuer s te, im Wald überrascht mit einem Heiden … Sagen Sie I h rer Freundin, sie soll bei
Weitere Kostenlose Bücher