Der geheime Zirkel 01 - Gemmas Visionen
Kopf zurück. »Er scheint mich anzusehen.«
Dass Kartik möglicherweise Pippa beobachtet und nicht mich, ist mir bisher gar nicht in den Sinn g e kommen, und aus irgendeinem Grund ärgert mich diese Vorstellung. Auch wenn ich noch so wütend auf ihn bin, möchte ich, dass er nur auf mich achtet.
»Wo habt ihr denn eure Augen?«, fragt Ann. Ihre Hände sind voll langstieliger gelber Blumen, die schon die Köpfe hängen lassen.
»Bei dem Burschen dort drüben. Es ist der Zige u ner, der mich im Unterhemd gesehen hat.«
Ann blinzelt. »Ach ja. Der. Ist es nicht der, den du g e küsst hast, Gemma?«
»Das ist nicht wahr!«, ruft Pippa entsetzt.
»Doch«, sagt Ann sachlich. »Aber nur, um uns vor den Zigeunern zu retten.«
»Ihr wart bei den Zigeunern? Wann? Warum habt ihr mich nicht mitgenommen?«
»Das ist eine lange Geschichte. Ich erzähle sie dir auf dem Rückweg«, sagt Felicity ungehalten. Pippa beschwert sich, dass wir ihr wichtige Informationen vorenthalten h a ben, aber Felicitys Augen wandern zu Kartik und dann zu mir und ihr Blick verrät, dass sie mich durchschaut hat. Sie legt ihren Arm um Pippas Schultern und erzählt ihr von unserem Abenteuer im Zigeunerlager, und zwar so, dass ich völlig reing e waschen daraus hervorgehe. Ich bin eine großmütige, aufopfernde Heldin, die seinen Kuss ertragen hat, nur um uns zu retten. Es ist so überzeugend, dass ich es fast selbst glaube.
Als wir wieder durch das Tor aus Licht treten, b e grüßt uns der Garten des Magischen Reichs mit s ü ßen Düften und einem strahlenden Himmel. Ich bin in einem Zwiespalt. Ich weiß nicht, wie viel Zeit ich mit meiner Mutter haben we r de, und eine leise Stimme in mir sagt, dass ich diese Zeit nicht mit meinen Freundinnen teilen möchte. Aber sie sind meine Freundinnen und vielleicht wird sich meine Mutter freuen, sie kennenzulernen.
»Folgt mir«, sage ich und mache mich auf den Weg ta l abwärts. Von Mutter ist weit und breit nichts zu sehen.
»Wo ist sie?«, fragt Ann.
»Mutter?«, rufe ich laut. Keine Antwort. Nichts außer dem Zwitschern der Vögel. Was, wenn sie gar nicht wir k lich hier ist? Wenn ich es mir nur eingebi l det habe?
Meine Freundinnen weichen meinem Blick aus. Pippa flüstert Felicity leise etwas ins Ohr.
»Vielleicht hast du es nur geträumt?«, meint Fel i city vorsichtig.
»Sie war dal Ich habe hier mit ihr gesprochen!«
»Ja, aber jetzt ist sie nicht da«, stellt Ann fest.
»Na komm«, sagt Pippa zu mir, wie man mit einem kle i nen Kind spricht. »Lass uns die Zeit hier genießen. Es ist einfach wie im Paradies.«
»Suchst du mich?« Plötzlich steht Mutter in ihrem bla u en Kleid vor uns. Sie ist so schön wie immer. Meine Freundinnen sind sprachlos über ihre Ersche i nung.
»Felicity, Pippa, Ann … darf ich vorstellen, Virginia Doyle, meine Mutter.«
Die Mädchen murmeln eine höfliche Begrüßung.
»Ich freue mich ja so sehr, euch kennenzulernen«, sagt Mutter. »Was für hübsche Mädchen ihr alle seid.« Das hat die gewünschte Wirkung. Sie erröten, vollkommen bezaubert. »Wollen wir einen kleinen Spaziergang m a chen?«
Bald verlieren sie ihre Scheu und unterhalten Mu t ter mit Geschichten über Spence und über sich selbst. A l le drei wetteifern um ihre Aufmerksamkeit und ich bin ein bis s chen gekränkt, weil ich Mutter gern für mich allein haben möchte. Aber dann zwinkert sie mir zu, nimmt meine Hand und ich bin wieder glüc k lich.
»Wollen wir uns setzen?« Mutter zeigt auf eine aus hauchdünnen Silberfäden gewobene Decke, die auf dem Gras ausgebreitet ist. Für ein so federleic h tes Ding ist sie überraschend fest und behaglich. F e licity streicht mit ihren Händen über das feine Gewebe. Die Fäden geben die e r staunlichsten Töne von sich.
»Du lieber Himmel«, sagt Felicity entzückt. »Hört ihr das? Pippa, versuch du es mal.«
Wir alle tun es. Und es ist, als würde unter unseren Fi n gern eine Harfensymphonie erklingen. Wir sind überwä l tigt.
»Ist das nicht wunderbar? Ich frage mich, was wir noch tun können«, überlegt Felicity.
Mutter lächelt. »Alles.«
»Alles?«, wiederholt Ann.
»In diesem Garten könnt ihr alles haben, was ihr euch wünscht. Ihr müsst nur wissen, was ihr wollt.«
Wir nehmen ihre Worte in uns auf, ohne ihre B e deutung ganz zu erfassen. Schließlich steht Ann auf. »Ich probier ’ s mal.« Sie zögert. »Was muss ich tun?«
»Was wünschst du dir am meisten? Nein – sag ’ s uns nicht. Richte deine Gedanken
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