Der geheime Zirkel 02 - Circes Rueckkehr
meinen Rock und sause zu Nells Zimmer , so schnell ich kann.
Nell sitzt in einer Ecke. Sie haben ihr die Zwangsjacke au s gezogen. Der schöne Blumenstrauß ist ruiniert , die Blüte n blätter sind abgerissen und überall verstreut. Nell schaukelt vor und zurück und schlägt dabei jedes Mal mit dem Kopf leicht gegen die Wand. Ich nehme ihre Hände in meine.
»Miss Hawkins , ich bin ’ s , Gemma Doyle. Nell , wir h a ben nicht viel Zeit. Ich muss wissen , wo sich der Tempel befindet. Sie wollten es gerade sagen , als sie Sie wegg e bracht haben. Jetzt besteht keine Gefahr. Sie können es mir verraten.«
Ein dünner Speichelfaden sickert aus ihrem Mundwi n kel. Ein Geruch nach überreifem Obst dringt mit jedem ihrer wi n zigen Atemstöße zu mir. Sie haben ihr irgendein Beruh i gungsmittel gegeben.
»Nell , wenn Sie mir nicht sagen , wie wir den Tempel fi n den , dann sind wir wahrscheinlich verloren. Circe wird ihn vor uns finden und es ist nicht auszudenken , was dann g e schieht. Sie könnte die Herrschaft über das Mag i sche Reich an sich reißen. Sie könnte einem anderen Mädchen das Gle i che wie Ihnen antun. Oder sogar me h reren.«
Tief unter uns wechselt die Musik das Tempo und ein neuer Tanz beginnt. Ich weiß nicht , wie lange ich we g bleiben kann , bis sie anfangen werden , mich zu suchen.
»Sie wird nie aufhören« , durchbricht Nells heisere Stimme das Schweigen. »Nie. Nie. Nie.«
»Dann müssen wir dafür sorgen , dass sie aufhört« , sage ich. »Bitte. Bitte helfen Sie mir.«
»Du bist es , die sie will , sie wollte immer dich« , sagt Nell lallend. »Sie wird mich dazu bringen , dass ich ihr sage , wo sie den Tempel findet , genauso , wie sie mich dazu gebracht hat , ihr zu sagen , wo sie dich findet.«
»Was soll das heißen?«
Ein Geräusch dringt an meine Ohren. Auf dem Flur nähern sich Schritte. Ich bin mit einem Satz an der Tür und luge hi n aus. Jemand kommt. Jemand mit einem dunkelgrünen Mantel. Sie bleibt bei jedem Zimmer st e hen und schaut hinein. Ich schließe leise die Tür.
»Nell« , sage ich. Mein Herz klopft zum Zerspringen. »Wir müssen uns verstecken.«
»Mariechen saß auf einem Stein , einem Stein … Da kam die böse Fee herbei , Fee herbei …«
»Psst , Nell. Sie müssen still sein. Da , rasch , unters Bett.«
Nell ist eine kleine , zarte Person , aber das Beruhigungsmi t tel hat sie so niedergedrückt , dass sie schwer ist wie ein Stein. Wir fallen gemeinsam auf den Boden. Mit großer Anstre n gung gelingt es mir , sie unters Bett zu schieben , dann krieche ich hinterher. Die Schritte sind vor Nells Zimmertür ang e langt. Ich halte Nell mit einer Hand den Mund zu , als die Tür geöffnet wird. Ich weiß nicht , wovor ich mich mehr fürchte , dass Nell plötzlich einen verräterischen Laut von sich gibt oder dass uns das Klopfen meines Herzens verrät.
Ein Flüstern ist in der Dunkelheit zu hören. »Nell?«
Ich spüre , wie Nells Körper sich versteift.
Wieder das Flüstern. »Nell , Liebling , bist du da?«
Der Saum ihres grünen Mantels wird sichtbar. Daru n ter s chaut die elegante Verschnürung blank polierter Stiefel he r vor. Ich bin überzeugt , ich könnte in ihrem spiegelnden Glanz meine eigene Angst sehen. Die Stiefel kommen näher. Ich halte den Atem an und spüre , wie sich in meiner Hand Nells Speichel sammelt.
Nell ist so still neben mir , dass ich fürchte , sie ist tot. Die Stiefel drehen ab und die Tür fällt mit einem Klick ins Schloss. Ich krieche unter dem Bett hervor und ziehe Nell hinter mir nach. Nell umklammert mein Handg e lenk. Ihre Augenlider flattern , ihre Lippen verziehen sich zu einer sta r ren Grimasse , aus der nur vier Worte he r vordringen.
»Sieh , was ich sehe …«
Wir werden ganz plötzlich und mit Gewalt in eine V i sion hineingezogen. Aber es ist nicht meine , es ist Nells Vision. Wir laufen durchs Magische Reich. Gras streift unsere Kn ö chel. Aber es geschieht zu schnell. Nells G e danken sind ein Wirrwarr und ich kann mir auf das , was ich sehe , keinen Reim machen. Rosen stoßen durch eine Wand hindurch. Roter Lehm auf Haut. Die Frau in Grün , die an einem tiefen , klaren Brunnen Nells Hand festhält.
Und ich falle rückwärts ins Wasser.
Ich kann nicht atmen. Ich ersticke. Ich tauche aus der Vis i on auf und merke , dass Nells Hand meine Kehle u m klammert. Ihre Augen sind geschlossen. Sie sieht mich nicht , scheint nicht zu wissen , was sie tut. Ich zerre wild an ihrer Hand , aber ihre Finger
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