Der geheime Zirkel 02 - Circes Rueckkehr
ziehen das Boot ans Ufer. Der Tempel steht hoch oben auf dem Felsen. Um dorthin zu gelangen , müssen wir die ste i len , in den Stein gehauenen Stufen hinaufste i gen.
»Wie viele werden es sein , was glaubt ihr?« , fragt Ann und legt den Kopf in den Nacken , um ganz nach oben zu schauen.
»Es gibt nur eine Möglichkeit , das herauszufinden« , s a ge ich und beginne mit dem Aufstieg. Das Klettern ist mühsam und anstrengend. Ann setzt sich auf halbem Weg nieder , um zu Atem zu kommen. »Ich schaff das nicht« , schnauft sie.
»Doch , du schaffst es« , sage ich. »Es ist nur noch ein ku r zes Stück. Schau.«
»Oh!« , ruft Ann erschrocken. Ein großer schwarzer Vogel streift mit seinem Flügel fast ihr Gesicht und lässt sich neben uns auf den Stufen nieder. Es ist eine Art R a benvogel. Bei seinem lauten Krah! läuft mir eine Gäns e haut über die Arme. Ein zweiter Rabe gesellt sich zu ihm. Die beiden scheinen uns herausfordern zu wo l len.
»Nun kommt schon« , sage ich. »Es sind nur Vögel.«
Wir drängen uns an ihnen vorbei und steigen die let z te n S tufen hinauf. Am Ende der Treppe empfängt uns ein riesiges goldenes Tor. Es ist mit den herrlichsten Blumenornamenten geschmückt.
»Wie schön« , sagt Ann. Sie berührt die Blütenblätter und das Tor öffnet sich. Der Innenraum der Kathedrale ist riesig , mit einem hoch aufragenden Deckengewölbe. Überall bre n nen Kerzen und Fackeln.
»Hallo?« , sagt Ann. Das Echo ihrer Stimme antwortet , Ha l lo , a llo , l o.
Die Marmorplatten des Fußbodens ergeben ein Muster aus roten Blumen. Wenn ich meinen Kopf zur Seite dr e he , scheint der Boden schmutzig und beschädigt , der Marmor in große Stücke zerbrochen. Ich blinzle und er ist wieder glänzend und schön.
»Siehst du etwas?« , frage ich. Etwas , w as , w as.
»Nein« , sagt Ann. »He , was ist das?«
Ann greift an eine Stelle der Wand. Mauerwerk bröckelt herab. Irgendetwas rollt über den Boden bis zu meinen Füßen. Ein Totenschädel.
Ann schaudert. »Wie kam der in die Wand?«
»Keine Ahnung.« Meine Kopfhaut prickelt vor Angst. Meine Augen spielen mir Streiche , denn der Fußboden scheint wieder beschädigt. Die Schönheit der Kathedrale flackert wie das Licht der Kerzen , sie schwankt zwischen majestätisch und makaber. Für einen Augenblick sehe ich eine andere Kirche , das verfallene Gehäuse eines Ba u werks , dessen zerbrochene Fenster unheimlich auf uns herabblicken wie die leeren A u genhöhlen des Totensch ä dels.
»Ich glaube , wir sollten gehen« , sage ich.
»Gemma! Ann!« Felicitys schrille , entsetzte Stimme. Wir rennen zu ihr. Sie hält eine Kerze dicht an die Wand. Und dann sehen wir es. In die Wand sind Gebeine eingebettet. Hunderte. Angst schreit in mir.
»Das ist nicht der Tempel« , sage ich und starre auf die Knochen einer Hand , die in dem bröckelnden Gemäuer fes t steckt. Es durchfährt mich eiskalt , als ich die Wahrheit erke n ne. Bleibt auf dem Weg , G espielinnen. »Sie h a ben uns in die Irre geführt , genau wie Nell es vorausg e sagt hat.«
Über uns ist ein tappendes Geräusch. Schatten gleiten durch den Kirchenraum.
Ann packt meinen Arm. »Was war das?«
»Ich weiß es nicht.« Nicht , n icht , n icht.
Felicity tastet nach dem Köcher auf ihrem Rücken. Das tappende Geräusch kommt von der anderen Seite. Es hört sich ganz nahe an.
»Weg« , flüstere ich. »Sofort.«
Plötzlich ist alles in Bewegung. Die Schatten huschen wie riesige Fledermäuse durch das goldene Kuppelgewö l be. Wir sind schon fast an der Tür , da hören wir es: ein hohes We h klagen , das mir das Blut in den Adern gefri e ren lässt.
»Lauft!« , rufe ich.
Wir stürzen zur Tür , unsere Schuhe klappern laut über die zerbrochenen Marmorblumen , aber nicht laut genug , um das grauenhafte Kreischen und Wimmern zu übert ö nen.
»Weiter!« , schreie ich.
»Seht!« , ruft Felicity.
Die Dunkelheit der Vorhalle bewegt sich. Was auch immer eben noch über uns war , ist vor uns zur Tür g e langt und schneidet uns den Weg ab. Das Wimmern geht in einen eint ö nigen Singsang über. »Püppchen , Püp p chen , Püppchen …«
Sie treten aus den Schatten hervor , acht oder neun unvo r stellbar groteske Wesen. Sie alle , vom ersten bis zum letzten , tragen zerfetzte , vor Schmutz starrende weiße Gewänder über altertümlichen Kettenhemden und mit Nägeln beschlagenen Stiefeln. Einige haben langes , ve r filztes Haar , das über ihre Schultern fällt. Andere haben ihre
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