Der Geheimnistraeger
Vincent.
»Sie hatten gerade Paolo Rocca als das Mordopfer identifiziert und erfahren, dass er ein Terrorist war. Lydia Tamaradze begann ihren eigenen Guerillakrieg gegen die Besatzer. Ist das ein Zufall?«
»Ja«, sagte Vincent. »Von Rocca und der Mordermittlung habe ich am Telefon nichts gesagt. Und ich weiß immer noch nicht, was sie zu ihren Handlungen anregte.«
Das Verhör dauerte über zwei Stunden. Vincent Paulsen duckte sich immer weiter unter den Anschuldigungen der PET-Leute. Als die Befragung beendet war, teilte man ihm mit, Reichspolizeichef Thord Henning hätte ihn auf unbestimmte Zeit vom Dienst suspendiert. Es sei ihm untersagt, über das gegen ihn laufende Ermittlungsverfahren mit jemand anderem als einem Anwalt zu reden.
Vincent Paulsen verließ das Polizeipräsidium mit dem Gefühl, schutzlos zu sein. Jemand hatte die Schutzhülle der Unverletzbarkeit heruntergerissen, die ihn sein ganzes Leben lang umgeben hatte, eine Schutzhülle, die von der Fürsorge seiner Eltern gestärkt worden war, von der Liebe seiner Familie, vom Respekt seiner Kollegen vor seinem beruflichen Können und von seiner Teilhabe an der dänischen Gesellschaft.
Er stand auf dem Polititorvet und wusste nicht, in welche
Richtung er gehen sollte. Seine Füße trugen ihn auf die Innenstadt zu. Er kam am Rådhuspladsen vorbei. Spuren des brutalen Mordes an Paolo Rocca waren keine zu erkennen. Es hatte den Anschein, als sei dieser nie verübt worden. Die Schlagzeilen der Zeitschriftenläden am Strøget sprachen von Schuld und Sühne. Vincent wanderte ziellos weiter. Plötzlich stand er vor dem Juweliergeschäft. Er drückte die Klinke. Es war abgeschlossen, und er klingelte. Von innen hörte er Schritte. Simon Herschfeld öffnete und ließ ihn eintreten. Herschfeld schien nicht sonderlich erstaunt darüber, ihn wiederzusehen.
»Ich will nur einen Moment hier sitzen«, sagte Vincent. »Wenn Sie nichts dagegen haben. Sie können gerne mit Ihrer Arbeit weitermachen.«
Herschfeld deutete auf den Sessel und nahm selbst wieder an seinem Arbeitstisch Platz. Er klemmte eine Lupe vors Auge und begann einen Stein in einen Ring einzufügen.
Lange schwiegen sie beide. Herschfeld wirkte hochkonzentriert. Als er mit dem Ring fertig war, legte er seine Werkzeuge beiseite.
»Man begeht leicht einen Fehler«, sagte er. »Kein Stein ist wie der andere. Sie sind wie Individuen mit einem eigenen Willen.«
»Wenn man nicht versteht, wie ein anderer Mensch denkt, wie soll man sich dann diesem Menschen gegenüber verhalten? «, meinte Vincent.
»Es gibt nicht nur eine Wahrheit, nicht nur eine stimmige Erklärung, sondern nur unsere eigenen Deutungen derselben Wirklichkeit. Wir können nicht alles verstehen, mit dieser Unsicherheit müssen wir leben. Etwas bedrückt Sie, mein lieber Paulsen. Wollen Sie mir nicht erzählen, was es ist?«
»Was kann einen Menschen dazu bringen, einen anderen Menschen freiwillig und ohne Zwang zu töten?«
»Denken Sie an die Besatzer? Über die wir bei Ihrem letzten Besuch gesprochen haben?«
»Nein, nicht die«, erwiderte Vincent. »Ich denke an jemand anderen, an eine Frau.«
»In Birkenau sind mir viele Mörder begegnet. Die meisten waren normale deutsche Männer. Für sie war das Töten zur Normalität geworden.«
»Aber wie konnten sie nur so weit gehen?«
»Diese Frage haben viele zu beantworten versucht. Ich kenne nur meine eigene Wahrheit.«
»Und die ist?«
»Wir wurden zu ihren Feinden ernannt, obwohl wir keine Soldaten waren. Im Krieg tötet man den Feind. Wenn der Krieg zur Normalität des Menschen wird, dann tötet er mit Leichtigkeit und sogar freiwillig. Deswegen kann er ebenso leicht aufhören zu töten, wenn der Friede zur neuen Normalität wird.«
Paulsen erhob sich. »Ich muss jetzt gehen«, sagte er. »Ich habe Ihre Zeit schon viel zu lange in Anspruch genommen.«
»Überhaupt nicht, Paulsen. Wir sehen uns doch bald wieder? «
Paulsen nickte und gab Herschfeld die Hand.
Lydia Tamaradze fixierte Skov mit dem Blick. Dieser war weder freundlich noch unfreundlich, sondern abwartend. Er bat sie, ihm von sich zu erzählen. Sie antwortete, sie sei Kämpferin in Abchasien gewesen und habe deswegen in Dänemark Asyl beantragt. Sie hätte sich in Dänemark versteckt. Sie weigerte sich preiszugeben, wer ihr dabei geholfen hatte, selbst noch, als Skov Paulsen und seine Schwester Karoline sowie die Besitzerin der Wohnung in Korsør, Kirsten Berg, erwähnte. Skov fragte sie, was sie
Weitere Kostenlose Bücher