Der Geheimnistraeger
furchtbare Waffe.
Die Menge hätte genügt, um große Teile der Brücke zum Einsturz zu bringen. Die Lastwagen vor Ort zu sprengen war also undenkbar. HMX ließ sich problemlos transportieren, wäre aber wohl in einem umstürzenden Lastwagen detoniert. Die Lastwagen gaben entsprechend Anlass zu Überlegungen.
Die Sprengmeister konnten keine Zünder entdecken. Deswegen lud man die HMX-Kartons einzeln aus und transportierte sie ab. Erst am nächsten Morgen war die Operation durchgeführt und alle Fahrzeuge von der Brücke entfernt worden.
Als dem Reichspolizeichef Thord Henning klar wurde, welche Schäden der Sprengstoff hätte anrichten können, stellte er sich folgende Frage: Warum hatten die Besatzer die Lastwagen nicht mit ihren Panzern beschossen? Wieso hatten sie darauf verzichtet, die Brücke zu sprengen, als sie angegriffen worden waren? Henning diskutierte diese Frage mit Knud Halsberg, dem Staatssekretär des Ministerpräsidenten. Beide bezweifelten, dass es sich dabei um irgendeine Form der Rücksichtnahme gehandelt haben konnte, da sich die Terroristen während der Besetzung nicht gerade dadurch ausgezeichnet hatten.
Halsberg meinte, die Terroristen hätten sich so sehr auf die Verteidigung konzentriert, dass sie gar keine Gelegenheit gehabt hätten, auf die Lastwagen zu schießen. An diese Theorie glaubte Henning jedoch nicht. Laut abgehörter Handygespräche hatte die Besatzung zumindest eines der Panzerwagen an der Brücke gewusst, dass ihre Kameraden weiter im Osten an der E 20 angegriffen worden waren. Sie hätten alle Zeit der Welt gehabt, auf die Lastwagen an der Brücke zu schießen, und doch hatten sie es nicht getan.
Sie erörterten die Frage noch eine Weile, kamen jedoch zu keinem eindeutigen Ergebnis. Henning und Halsberg suchten nach einer logischen Antwort, sie wollten verstehen. Die gedankliche Welt der Terroristen wäre weniger bedrohlich gewesen, wenn sie sie in ihren eigenen Begriffsapparat hätten einordnen können. Die Erleichterung darüber, dass die Brücke unbeschädigt geblieben war, wurde von einem unerklärlichen Gefühl getrübt, dass etwas zutiefst Beunruhigendes an diesem irrationalen Verhalten der Terroristen war.
Bereits Mittwochmorgen war eine große Anzahl der getöteten Besatzer identifiziert. Von den 31 Terroristen, die nicht in den Panzerwagen verbrannt waren und deren Fingerabdrücke
daher abgenommen werden konnten, konnten zwanzig direkt von Interpol und Europol mit Hilfe des Fingerabdruckregisters identifiziert werden. Fünf von ihnen gehörten einer bereits bekannten Organisation, der sogenannten Freiheitskoalition, an. Der Name klang nach einer Waffenallianz unter amerikanischer Führung, aber es handelte sich um eine kleine Gruppe radikaler Globalisierungsgegner. Die Organisation war 1998 in Italien gegründet worden, wurde allerdings in keinem Land der Terrorszene zugerechnet. Die fünf getöteten Mitglieder der Freiheitskoalition waren jetzt aber offenbar einen Schritt weitergegangen: Aus Steinewerfern waren Terroristen geworden. Vier der fünf waren Italiener, einer war Deutscher.
Bei zwei der Identifizierten handelte es sich um Jordanier, einer war Iraker, ein weiterer ein im Exil lebender Saudi-Araber. Einer war Palästinenser aus dem Libanon, einer Marokkaner. Sämtliche Araber standen bereits unter dem Verdacht, Al-Qaida-Sympathisanten zu sein, was aber eher auf ihren Kontakten als auf entsprechenden Taten beruhte. Alle bis auf einen wohnten in einem EU-Land oder hatten in einem EU-Land gewohnt. Alle hatten ein Universitätsstudium absolviert.
Die übrigen neun waren Europäer, die eines verband: Sie waren Kinder von Familien, wo ein Elternteil oder beide Migranten waren. Unter diesen neun befand sich auch die bereits identifizierte Iman Amin.
Terfig und Christian saßen in Terfigs Büro und besprachen die Zusammensetzung der Gruppe. Beiden war dabei ziemlich unwohl zumute, da sie eine neue Entwicklung des Terrorismus zu erkennen meinten.
»Es handelt sich um eine Verschmelzung von extremem Globalisierungswiderstand und Al Qaida«, meinte Christian. »Oder es handelt sich um einen europäischen Zweig des Al-Qaida-Netzwerks,
wenn man so will. Das ist ein Alptraumszenario. «
»Wir müssen versuchen, ihre Absichten zu ergründen«, sagte Terfig. »Ich will, dass du eine Analyse anfertigst, die von den bisherigen Ideologien der einzelnen Terroristen oder ihrer Organisationen ausgeht.«
»Damit habe ich bereits angefangen«, erwiderte
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