Der Geheimnistraeger
Männerblicken, die sich von den Blicken, die ihr die Soldaten während des Krieges zugeworfen hatten, gänzlich unterschieden. Das waren die Blicke hungriger Raubtiere gewesen.
Eine Wache störte sie aus ihren Gedanken auf. Sie erhob sich von ihrer Pritsche und folgte ihm. Ein unbekannter Beamter erwartete sie im Vernehmungsraum.
»Ich heiße Bjarne Skov«, sagte der Polizist auf Englisch.
Lydia nickte. Es kam ihr unnötig vor, sich vorzustellen.
Das Verhör dauerte mehrere Stunden. Skov stellte anfänglich dieselben Fragen wie die anderen Beamten, aber plötzlich wechselte er das Thema. Was sollte am Montag passieren? Lydia bat ihn, ihr seine Frage zu erklären. Skov variierte sie unzählige Male. Lydia antwortete auf ebenso viele Arten, dass sie nicht in die Zukunft blicken könne.
Skov kam nicht weiter. Schließlich musste er aufbrechen, ohne in Erfahrung gebracht zu haben, was vielleicht in vier Tagen, am Montag der folgenden Woche, geschehen würde. Lydia war klar, dass auch Bjarne Skov ihr nicht glaubte.
Møller saß am Telefon. Die Nummer des Morddezernats war im Sydsvenska Dagbladet veröffentlicht worden. Mehrere Leute riefen an. Einige Hinweise waren interessant. Aber seine Erfahrung
sagte ihm, dass er sich nicht sofort in sein Auto zu werfen brauchte.
Nachdem er sich ein Smørrebrød und einen Tee genehmigt hatte, klingelte erneut das Telefon.
»Hallo«, sagte eine muntere Frauenstimme. »Hier ist Camilla. Sie haben mich gestern über einen unserer Hotelgäste befragt, diesen Paul Ricardo, Sie erinnern sich doch?«
Møllers Kurzzeitgedächtnis funktionierte ausgezeichnet. Das Mädchen mit dem Kaugummi, über den er sich vollkommen überflüssigerweise geärgert hatte. Dieses Mal war er ihr von Anfang an freundlich gesinnt.
»Hallo«, erwiderte er.
»Mir ist noch etwas eingefallen«, sagte sie. »Ich dachte, das könnte etwas sein, was Sie vielleicht wissen wollen.«
»Ja, klar«, erwiderte Møller ermunternd. »Worum genau geht es denn?«
»Also, am Tag, nachdem dieser Ricardo abgereist war, rief er noch einmal an.«
»Sind Sie sich da sicher?«, fragte Møller. Er hatte noch nie erlebt, dass Tote ein Telefon verwendeten, einmal hatte er allerdings einen Artikel über einen Mord in Schweden gelesen, bei dem Gott offenbar eine SMS an den Täter geschickt hatte.
»Ja doch«, erwiderte Camilla. »Er sagte, er hätte eine Tasche vergessen, und fragte, ob ich sie in Verwahrung genommen hätte. Aber wir hatten keine Tasche gefunden. Das habe ich ihm auch gesagt.«
»Was geschah dann?«
»Wir beendeten das Gespräch. Seither habe ich nichts mehr von ihm gehört.«
»Sind Sie sich sicher, dass es Ricardo war?«
»Ja, das bin ich. Er nannte jedenfalls diesen Namen.«
»Aber haben Sie ihn an der Stimme erkannt?«
»Nein, darüber habe ich gar nicht nachgedacht.«
»Können Sie sich noch erinnern, wann genau das war?«
»Ich hatte Nachtschicht, ich frage mich also, ob es nicht vielleicht sogar am selben Abend und nicht am Tag darauf war, wie ich eben noch gesagt habe. Er ist ja ungefähr um acht Uhr morgens abgereist, es war also vielleicht um neun oder zehn Uhr abends.«
»Sie haben sich nicht zufälligerweise notiert, von welcher Nummer aus er angerufen hat? Falls diese auf Ihrem Display aufgetaucht ist?«
»Leider nicht. Das ist alles, was ich Ihnen sagen kann.«
»Herzlichen Dank«, erwiderte Møller und legte auf.
Eine Sekunde später griff er fluchend wieder zum Hörer. Das Mädchen namens Camilla antwortete nach dem ersten Klingeln. Møller entschuldigte sich, dass er vergessen habe, noch eine Frage zu stellen.
»Klar«, sagte Camilla. »Fragen Sie nur.«
»Sie haben von einer Tasche gesprochen. Hatte Ricardo eine Tasche dabei, als er im Hotel erschien?«
Am anderen Ende wurde es still. »Ich denke nach«, sagte sie. »Irgendein Gepäck haben die Gäste ja immer. Es passiert fast nie, dass jemand überhaupt kein Gepäck hat. Ich erinnere mich nicht, was er dabeihatte, als er kam, aber ich glaube, es wäre mir aufgefallen, wenn er ganz ohne Gepäck abgereist wäre.«
»Warum?«
»Dann hätte ich mir vermutlich überlegt, ob er sein Gepäck nicht auf dem Zimmer stehen gelassen hätte. Ich hätte ihn gefragt. Vermutlich hatte er also eine Tasche dabei, als er das Hotel verließ.«
Møller nickte. Das klang, als handele es sich hierbei um einen bei Hotelportiers üblichen, berufsbedingten Reflex. Außerdem
wirkte dieses Mädchen ausgesprochen observant. Er dankte ihr
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