Der Geheimnistraeger
deuten.«
»Und das haben Sie getan, lieber Paulsen, das haben Sie wirklich. Und jetzt fragen Sie sich natürlich, wie das alles mit dem Schrecklichen zusammenhängt, das sich gerade auf unserer Insel ereignet.«
»Ja, in der Tat.«
Er hatte aufgehört sich darüber zu wundern, dass Herschfeld scheinbar seine Gedanken lesen konnte.
»Ich bin im Laufe meines Lebens sehr viel mit Terror und Rassismus konfrontiert worden«, sagte Herschfeld. »Mehr, als einem Menschen zumutbar ist. Ich verfolge, was in Korsør geschieht, und es schmerzt mich.«
»Wie soll man das verstehen?«, fragte Vincent. »Was treibt sie dazu?«
»Was diese Menschen wollen, das weiß ich genauso wenig wie Sie, Paulsen. Aber spielt das denn überhaupt eine Rolle?«
»Wie meinen Sie das?«
»Das sind Menschen, die sich das Recht herausnehmen, unser Leben für ihre Sache zu opfern. So ist es in allen Kriegen gewesen. Jemand steht hinter der Bühne und schickt uns für das, woran er glaubt, in den Tod. Der Mann hinter der Bühne gibt irgendwelche Gründe für seinen Beschluss an, aber meist geht es darum, dass er sich selbst oder seine Ideen begünstigt. So ist es auch mit all diesen Terroristen. Sie opfern Unschuldige für sich. Der Unterschied zwischen Terroristen und Generälen oder Politikern ist nur, dass die Terroristen auch ihr eigenes Leben aufs Spiel setzen. Aber das tun sie ihres eigenen Genusses wegen, daher ist es auch nicht weiter bewundernswert. «
»Genuss?«
»Lieber Paulsen, ein terroristischer Akt ist die ultimative Revanche.
Er vermittelt ein ausgesprochen intensives Lebensgefühl. Klingt das unmenschlich?«
»Ja, allerdings.«
»Es ist unmenschlich, aber es sind trotzdem Menschen, die diese Taten begehen, und nicht Tiere.«
»Eine Revanche wofür?«
»Dafür, dass man dem Menschen seinen rechtmäßigen Platz verweigert. Er kann Armut und Not ertragen, daran hat er sich über Jahrtausende gewöhnt. Sich abzumühen ist das Los aller. Wir kommen nie an, ständig gibt es neue Ziele. Aber wenn sich uns jemand in den Weg stellt, dann protestieren wir. Und wenn das immer wieder geschieht, dann verändert sich der Mensch. Die meisten verlieren ihren Glauben an ein besseres Leben und geben auf. Andere versuchen verzweifelt, das Hindernis zu überwinden. Wieder andere geben denen die Schuld, die in Sichtweite auf der anderen Seite stehen. Dort stehen Sie und ich, Paulsen. Leute wie wir werden zu Zielscheiben ihres unersättlichen Rachebedürfnisses. Und wenn ausreichend durchtriebene Menschen sich dieses Rachebedürfnis zu Nutze machen, dann können unaussprechliche Grausamkeiten begangen werden, im Namen Gottes, im Namen der Befreiung oder im Namen der Nation. Das ist der ewige Kreislauf der Gewalt, der immer in einem Blutbad endet.«
»Die Besetzer sprechen von ihren Märtyrern«, sagte Vincent. »Was sagt uns das? Handelt es sich um radikale Islamisten?«
Simon Herschfeld lächelte.
»Ich habe im Radio die Schlussfolgerung gehört, es müsse sich um Islamisten handeln. So eine unbedarfte Theorie. Die Märtyrer sind Leute, die um ihres Glaubens willen ihr Blut vergießen. Die Märtyrerlegenden stammen von den Christen, der Tod reinigte sie von den Sünden und sie kamen in den Himmel. Der Islam hat diese Tradition einfach nur vom Christentum
übernommen. Dort spricht man von Shahid . Der erste Märtyrer gehörte übrigens meinem Glauben an, er starb bereits 160 Jahre vor Christus. Wer von Märtyrern spricht, kann also Jude, Christ oder Moslem sein.«
»Aber heutzutage … sind es da nicht die Islamisten, die dieses Wort politisch verwenden?«
»Sie meinen, dass die Christen ihr Leben nicht mehr ihrem Glauben opfern? Damit könnten Sie recht haben, mein lieber Paulsen. Und die Juden? Wir sprechen immer noch von Märtyrern auch in Zusammenhängen, in denen es mehr um Politik als um Glauben geht. Wir missbrauchen das Wort ebenso sehr wie die Islamisten.«
»Und der Rassismus?«, meinte Vincent.
»Sie wissen, was ich von der Xenophobie in unserem Land halte«, sagte Herschfeld. »Wir begnügen uns nicht damit, niemanden in unser Land zu lassen, wir demütigen auch die, die bereits hier sind. Das ist die europäische Einfalt, Paulsen. Wenn die Franzosen den Schleier, den Hijab , in den Schulen verbieten, dann wird das Private politisch. Ist es da so verwunderlich, dass der Islam damit antwortet, zu politisieren?«
Vincent Paulsen ging zum Schaufenster und nahm einen Ring heraus. Er drehte ihn hin und her und betrachtete den
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