Der Geheimnistraeger
sofort Verdacht erregten und sich unbehindert in der EU bewegen konnten. Er hatte Paolo Rocca in Damaskus kennengelernt. Er war der Schlüssel zur Rekrutierung der Europäer.
Dass sich diese Verbindung dann als Sackgasse erwiesen hatte, war eine unangenehme Fehlkalkulation gewesen. Er konnte nur hoffen, dass der entstandene Schaden nicht größer war, als er glaubte. Trotzdem, im Großen und Ganzen hatten seine Berechnungen bislang standgehalten. Jetzt galt es nur noch, das Wichtigste zu tun.
Doris war hungrig. Sie hatte noch nichts zu essen bekommen, obwohl über vierundzwanzig Stunden vergangen waren. Sie fragte sich, was das zu bedeuten hatte. Vielleicht machte es ja keinen Sinn, diejenigen, die man ohnehin töten wollte, auch noch zu füttern? Dachten sie etwa so? Oder hatten sie vergessen, dass sie da war? War sie bloß ein unwesentliches Detail in einem größeren Spiel?
Sie setzte sich aufs Bett. Niemand hatte sich die ganze Zeit um sie gekümmert. Sie hatten sie in das Zimmer geschoben und waren dann weggegangen. Manchmal schaute sie auf die Straße und sah die Männer dort unten mit ihren Schusswaffen. Am Vorabend hatte sie mehrere Schüsse gehört. Sie hatte sich nicht ans Fenster gewagt, sondern sich auf dem Bett zusammengekauert. Sie wusste nicht, was geschah. Sie wusste nicht, warum sie gefangen gehalten wurde. Alles war genauso verwirrend wie erschreckend.
Ihre Arme schmerzten. Die Versuche, sich vom Klebeband zu befreien, waren erfolglos gewesen. Ihre Hände waren immer noch fest auf dem Rücken gefesselt. Glücklicherweise war es ihr gelungen, den Wasserhahn im Bad aufzudrehen, so dass sie hatte trinken können. Solange sie Wasser hatte, würde sie durchkommen. Ich sollte das als Diät betrachten, hatte sie gedacht, um nicht den Mut zu verlieren. Einen Augenblick später hatte sie zu weinen begonnen.
Am früheren Morgen hatte sie Bewegungen auf dem Korridor gehört. Sie hatte angenommen, dass es die Schritte der Gewalttäter waren. Aber jetzt war es erstaunlich still. Sie hatte abwechselnd gehofft und gefürchtet, dass die Polizei das Hotel stürmen und sie und die anderen, die offenbar ebenfalls dort gefangen gehalten wurden, befreien würde. Wenn der Angriff kam, wollte sie sich zwischen das Bett und die Außenwand des Zimmers auf den Fußboden legen, hatte sie sich vorgenommen.
Jetzt hörte sie erneut Schritte auf dem Korridor. Sie näherten sich. Die Angst bereitete ihr körperliche Schmerzen. Sie bewegte die Lippen wie im Gebet. Aber die Schritte gingen an ihrer Tür vorbei, und sie atmete auf. Eine Tür etwas weiter weg wurde geöffnet, es war nicht die des Nachbarzimmers. Sie hörte jemanden schreien, einen Mann, dann Geräusche von Körpern, die herumgestoßen wurden. Die Schritte waren wieder zu hören, wieder ging es an ihrer Tür vorbei, dann verklangen sie.
Wenig später neue Geräusche, die zu ihr heraufdrangen, ein Schuss, gefolgt von zwei weiteren, dann wurden zwei Fahrzeuge angelassen. Doris bekämpfte den Impuls, ans Fenster zu treten und hinauszuschauen. Sie hörte, wie die Fahrzeuge wegfuhren. Dann wurde wieder alles still. Allein saß sie auf dem Bett, alleingelassen mit ihren Fragen und der Angst, die jede Zelle ihres Körpers erfüllte.
44. Kapitel
Reichspolizeichef Thord Henning stand mindestens eine Minute lang schweigend da, nachdem er die Nachricht gelesen hatte. Die anderen im Raum fragten sich, was er da wohl las. Ein Beamter war mit einem Zettel in der Hand hereingekommen, hatte Henning ein paar Worte ins Ohr geflüstert und war wieder gegangen.
Staatssekretär Knud Halsberg dachte ungewollt an den Präsidenten der USA, George W. Bush, als dieser die Nachricht vom Angriff auf das World Trade Center erhalten hatte. Bush, von Kindern umgeben in einem Klassenzimmer, hatte nicht fassen können, was ihm zu Ohren gekommen war.
»Ein Auto wurde bis auf einige hundert Meter an die Straßensperre auf der E 20 herangefahren«, sagte Henning, »mit drei Toten. Genickschüsse, eine demonstrative Hinrichtung. «
Er schüttelte den Kopf. »In dem Auto lag eine Nachricht«, sagte er und ließ den Blick auf das Papier sinken. »›Wir haben das Blut unserer drei Märtyrer gerächt. Tod dem rassistischen Dänemark!‹ So steht es da. Auf Englisch. Die drei Toten sind die drei Mitglieder der Dansk Folkeparti, die gestern aus ihren Häusern abgeholt wurden.«
»Schrecklich«, sagte Knud Halsberg. »Und gleichzeitig ein
politisches Statement. Wir sind Rassisten? Ist das der
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