Der Geheimnistraeger
Faschisten regiert worden waren. Im Norden gab es diese Linke ebenfalls, aber keinerlei terroristische Tendenzen.«
»Aber es gibt andere Ausnahmen«, meinte Vincent.
»Natürlich, das ist immer so. Ich befasse mich mit allgemeinen Tendenzen anhand verschiedener Beispiele. Rechtlosigkeit und Massenarmut sind weitere Risikofaktoren. Außerdem gibt es bestimmte kulturelle Spezifika. Menschen, bei denen Probleme traditionell mit Gewalt gelöst werden, wie beispielsweise in den USA. Das ist ein Teil der Erklärung für den Terrorismus der Rechten, den man dort in den 90er Jahren beobachten konnte. Das alles zusammengenommen plus ein todesverachtender religiöser Fanatismus ergibt Al-Qaida.«
»Der Effekt vervielfacht sich also«, meinte Vincent.
»Es gibt einen weiteren Faktor, der nicht unterschätzt werden sollte«, meinte Christian. »Wenn diese Art Terrorismus einmal entstanden ist und sich eingenistet hat, dann färbt er auch auf uns ab. Das ist so wie bei Selbstmordepidemien. Plötzlich wird der Tod zur sichtbaren Lösung deiner Probleme.«
»Und die langfristige beziehungsweise die kurzfristige Perspektive? «
»Stell dir einmal vor, man würde diese Konflikte auf friedliche Weise lösen, die Demokratie fördern und die Menschen dazu bringen, auf eine bessere Zukunft zu hoffen. Dann merzt man die Voraussetzungen des Terrorismus langfristig aus. Aber kurzfristig hilft das kaum. Die Terrornetzwerke, die im Augenblick existieren, verstehen nur den Kampf. Eine doppelte Perspektive wäre also gut, finde ich.«
»Als ich über die Selbstmordbomber gelesen habe, habe ich versucht, mich in sie hineinzudenken«, meinte Vincent. »Alles, was du sagst, ist sicher richtig. Man muss eine spezielle Veranlagung haben, denke ich. Die meisten, die unter den Bedingungen leben, von denen du sprichst, werden aber keine Terroristen. Man muss eine psychopathische Persönlichkeit besitzen. Eine Gleichgültigkeit anderen gegenüber. Sonst geht es nicht. Blindheit als Gegensatz zur Doppelsichtigkeit.«
Vincent schaute aus dem Fenster.
»Ich spreche von verletzten Menschen«, fuhr er fort, »die bis in ihr Herz zerstört sind. Menschen, die wir anderen unmöglich verstehen können.«
»Und was sagst du über die Besetzer in Korsør«, fragte Christian. »Zu welcher Gruppe gehören die?«
»Ich weiß nicht. Aber ich glaube, das sind Menschen wie Paolo Rocca. Menschen, die keine andere Zukunft als die Gewalt sehen. Blutrache. Märtyrer. Den gemeinsamen Selbstmord. «
Er sah Christian erneut an, jetzt etwas verbissener.
»Paolo war Italiener und Iman Amin ist Französin aus Algerien«, meinte Vincent. »Unsere Kollegen in Italien sprachen von einer Verschmelzung des islamischen Terrorismus mit dem europäischen Linksextremismus. Wenn diese Sache beendet ist, werden wir sehen, ob sie Recht behalten. Aber ich ahne, dass sie der Wahrheit ziemlich nahe kommen.«
Im Hafen von Helsingør stand eine große Menge schweigender, staunender Menschen. In Kolonnen fuhren Panzerwagen von großen Frachtern. Ein Zuschauer zählte vierzig Stück. Einer nach dem anderen steuerte auf die Trailer schwerer Lastwagen. Die beladenen Fahrzeuge bebten wie eben erwachte Dinosaurier und setzten sich äußerst langsam in Richtung Hillerød,
Roskilde, Ringsted und Slagelse in Bewegung. Fernsehkameras verfolgten sämtliche Bewegungen.
Dänemark bereitete sich auf die Schlacht um Korsør vor.
Einige Stunden später, als Seeland im Abenddunkel lag, landeten drei große Bell-Hubschrauber auf einem Acker sieben Kilometer südöstlich von Korsør. Die Helikopter flogen ohne Licht, und an der nächsten Straßensperre in Skælsør war nur das rhythmische Schlagen der Rotorblätter zu hören. Aus allen drei Hubschraubern strömten schwarzgekleidete Männer. Keiner trug dänische Uniformen.
54. Kapitel
Die schwarzgekleideten Männer bewegten sich rasch über die Äcker. Sie folgten in etwa demselben Weg wie Espen anderthalb Tage zuvor auf die südliche Landzunge der Stadt zu. Innerhalb einer knappen Stunde hatten sie den Stadtrand von Korsør erreicht und machten Halt. Nachdem sie einen Augenblick lang ihre Position bestimmt hatten, bewegten sie sich in einem Bogen um den Leopardpanzer an der Einfahrt der Stadt herum. Als sie an dem Panzer vorbei waren, begaben sie sich auf den Skovvej. Eine Gruppe von fünf Mann spaltete sich ab. Einer von ihnen trug eine Panzerfaust, eine Carl Gustaf M 48, ein anderer zwei Granaten. Zwei Männer mit
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