Der Geheimnisvolle Eremit
und mein Vater spielte mit ihm Schach. Ich bin ganz sicher!«
»Wo war das? Und wann?«
»In Thame, als wir uns in Richtung London nach Brand umsahen. Wir übernachteten dort in der neuen Abtei der Weißen Mönche. Der Mann hier war schon vor uns da. Wir kamen erst spät am Abend und zogen am nächsten Tag nach Süden weiter. Ich kann den genauen Tag nicht nennen, aber es war Ende September.«
»Und wenn Ihr ihn nun wiedererkannt habt«, fragte Hugh, »obwohl er sich inzwischen sehr verändert hat, würde Euer Vater ihn dann ebenfalls wiedererkannt haben?«
»Aber gewiß, Herr, seine Augen waren sogar schärfer als meine. Außerdem hat er mit dem Mann am Schachbrett gesessen. Er hätte ihn wiedererkannt.«
Und der Vater hatte ihn wiedererkannt, als er auf seiner Menschenjagd die Klause im Wald erreicht und Auge in Auge dem Einsiedler Cuthred gegenübergestanden hatte, der einen Monat zuvor noch kein Einsiedler gewesen war. Und er hatte den Rückweg zur Abtei, wo er sein Wissen hätte preisgeben können, nicht überlebt. Und wenn er in dieser Verwandlung gar nichts Böses gesehen hatte? Er hätte dennoch zufällig anderen, denen sie mehr bedeutete, ein Wort verraten können, worauf jemand die Klause im Wald von Eyton aufgesucht hätte, auf der Suche nach mehr als nur einem entlaufenen Leibeigenen. Und gewiß nach Schlimmerem als einem falschen Priester. Doch Bosiet hatte den Rückweg nicht überlebt und war im dichten Unterholz des Waldes gestorben; weit genug von der Einsiedelei entfernt, um nicht den Verdacht auf einen Heiligen zu lenken, der angeblich seine Klause nie verließ.
Die Schlüssigkeit von Umständen bietet keinen eindeutigen Beweis, doch Cadfael hatte keinen Zweifel mehr. Vor ihnen lagen der Tote im Sarg und der neue Tote auf der Bahre ein paar Augenblicke Seite an Seite, bis Prior Robert die Leichenträger zur Friedhofskapelle schickte und Aymer Bosiet Cuthreds Gesicht bedeckte, um sich wieder seinen Reisevorbereitungen zu widmen. Er war mit anderen Dingen beschäftigt; warum ihn ablenken und aufhalten? Aber Cadfael hielt es plötzlich für wichtig, eine eigenartige Frage zu stellen.
»Was für ein Pferd ritt er, als er in Thame übernachtete?«
Aymer, der die Riemen seiner Satteltaschen festgezurrt hatte, hielt überrascht inne, öffnete den Mund, um zu antworten, und stellte fest, daß er nicht antworten konnte. Er dachte über seine Erinnerung an jenen Abend nach.
»Er war schon vor uns da. In den Ställen der Priorei standen zwei Pferde, als wir kamen. Und am nächsten Morgen brach er vor uns auf. Aber da Ihr nun fragt – als wir unsere Pferde holten, standen die beiden Tiere, die wir am Abend vorher gesehen hatten, noch in ihren Verschlägen. Das ist seltsam!
Warum sollte ein so begüterter Mann, nach Aussehen und Waffen mindestens ein Ritter, warum sollte ein solcher Mann ohne Pferd reisen?«
»Ah, vielleicht hatte er es woanders untergestellt«, meinte Cadfael und tat seine Frage als nebensächlich ab.
Doch sie war alles andere als nebensächlich, denn sie enthielt den Schlüssel für eine bislang versperrte Tür in seinem Kopf. Dort, vor den Augen vieler Menschen, lagen Mörder und Ermordeter Seite an Seite, und die Gerechtigkeit hatte gesiegt.
Aber wer hatte den Mörder ermordet?
Dann waren sie alle fort, Aymer auf dem schön gebauten leichten Rotbraunen seines Vaters, Warin auf dem Pferd, das Aymer auf dem Herweg geritten hatte, der junge Knecht am Karren. Nach einigen Tagereisen würde Aymer vermutlich vorausreiten und es den Dienern überlassen, mit dem Sarg langsam nachzukommen.
Cadfael hatte dafür gesorgt, daß Cuthred in der Friedhofskapelle ordentlich aufgebahrt wurde. Haar und Bart mußten nachgeschnitten werden; sicher nicht so modisch wie der Ritter sie in Thame getragen hatte, doch sauber genug, um ein im Tode starres und strenges Gesicht zu schmücken, das durchaus zu einem frommen Mann gehören mochte. Es schien ungerecht, daß ein Mörder im Tode so edel aussah wie ein Ritter der Kaiserin.
Hugh hatte sich mit dem Abt zurückgezogen und Cadfael gegenüber bisher noch nicht zu erkennen gegeben, wie er über Aymers Aussage dachte. Doch aus den Fragen, die er gestellt hatte, ging hervor, daß er die gleichen Verbindungen geknüpft hatte wie Cadfael und zwangsläufig zu den gleichen Schlußfolgerungen gelangt war, die er zunächst mit Abt Radulfus besprechen wollte. Und meine Aufgabe, dachte Cadfael, besteht jetzt darin, Hyacinth aus seinem Versteck zu holen und
Weitere Kostenlose Bücher