Der geheimnisvolle Garten: Roman (German Edition)
Er drehte sich zum Haus um und zeigte in sein Büro, dessen Tür offen stand. »Hier drinnen auf meinem Regal steht der Große Katechismus. Wir haben bestimmt an die zwanzig Ausgaben. Alle so gut wie neu. Und warum? Weil sie kaum jemals benutzt worden sind. Erzähle mir jetzt bitte keiner, dass da nicht alles drinstünde, was die Schwarzen wissen müssten! Mein Vorgänger – Gott hab ihn selig – hat sie bei den Wilden nicht zum Unterricht benutzt, und ich frage mich, warum nicht? Warum bringen wir den Wilden nicht das bei, weshalb wir vom Herrn zu ihnen geführt worden sind? Was sollen wir denn hier in der Wildnis, wenn nicht das Wort Gottes verbreiten? Was, frage ich dich, Bruder!« Gottfrieds Gesicht hatte sich Johannes bedrohlich genähert. Sein ansonsten fahler Teint leuchtete zartrosa vor Erregung, seine gestikulierenden Hände zitterten leicht. Helene hatte wie gebannt auf seinen vorstehenden Adamsapfel blicken müssen, der während seiner Rede Polka zu tanzen schien.
»Der Große Katechismus, von Luther eigens für den Unterricht der Kinder und Einfältigen zusammengestellt. Die Zehn Gebote und das Vaterunser. Johannes, falls ich in meiner begrenzten Weisheit das Wesentliche übersehen haben sollte, erkläre mir doch bitte, was im Himmel noch wissenswerter sein könnte als der Katechismus!«
Gottfrieds ungewohnt lauten Worten folgte Schweigen, das nur von den ewig surrenden Fliegen unterbrochen wurde. Helene war gespannt, was Johannes entgegnen würde, doch statt zu antworten, verscheuchte er nur die Buschfliegen vor seinem Gesicht, während er den Blick auf den Kirchenälteren geheftet hielt. Helene war überrascht darüber, wie feindselig sich Gottfried gegenüber dem Pastor aufführte. Plötzlich dämmerte es ihr, dass dies nicht nur ein Meinungsaustausch oder ein kleiner Streit war, wie sie ihn schon so oft innerhalb der Kirche daheim mit angehört hatte. Nein, dies war etwas anderes, ein regelrechter Machtkampf, der vor ihren Augen ausgebrochen war.
Nachdem Helene die Tragweite dieses Gesprächs erkannt hatte, vergaß sie vor Spannung fast das Atmen. Die Luft zwischen den Kontrahenten schien elektrisch aufgeladen. Was würde Johannes als Nächstes tun? Gottfrieds Anklage war dermaßen provozierend gewesen, müsste Johannes ihn da nicht am Kragen packen? Er musste sich doch verteidigen. Wenigstens mit Worten.
Helene schaute Johannes fast flehend ins Gesicht. Warum sprach er denn nicht, warum schleuderte er Gottfried nicht eine ätzende Gegenrede entgegen, die ihn ein für alle Mal zum Verstummen bringen würde? Sie krallte vor Spannung die Finger beider Hände in ihre Oberschenkel und biss sich gleichzeitig auf die Unterlippe. Johannes, sag doch was!, bat sie innerlich, und als sie die schreiende Stille zwischen den Männern nicht länger ertrug, rief sie ohne weiteres Nachdenken einfach dazwischen.
»Erst müssen die Kinder doch lesen und schreiben lernen, damit sie den Katechismus überhaupt verstehen.« Wie über ihren eigenen Mut erschrocken, hielt sie sich nun die Faust vor den Mund. Was war ihr nur eingefallen, sich in das Gespräch der Männer einzumischen? Noch immer schweigend schob Johannes sie nun sachte die Treppe hinunter. Helene drehte sich zu ihm um, wollte sich entschuldigen. Er hielt seinen Zeigefinger hoch, um sie daran zu hindern. »Lassen Sie uns bitte alleine, Helene. Das ist eine Sache, die nur Gottfried und mich angeht.«
Helene nickte beschämt und entfernte sich von den beiden. Johannes hatte recht, natürlich ging es nicht um sie. Als sie ihr Büro erreicht hatte, schloss sie die Tür hinter sich und sank auf den Stuhl hinter dem Schreibtisch. Ein Geräusch ließ Helene wenig später den Kopf heben. Georg stand im Türrahmen.
»Ist etwas mit Ihnen? Sie sehen so erschöpft aus.« Besorgt ging er neben ihr in die Hocke und betrachtete prüfend ihr Gesicht. »Sie sind kreidebleich.« Helene schüttelte den Kopf.
»Es ist nichts weiter. Die Hitze setzt mir ein bisschen zu, das ist alles.« Georg griff nach seinem Taschentuch und wischte ihr den Schweiß von der Stirn. Helene sah ihn an und begann, leise zu weinen. Georg nahm sie vorsichtig in den Arm und drückte sie an sich. Sich aufrichtend, zog er Helene zu sich hoch. Sie standen einander gegenüber, und er sagte nichts, strich ihr nur beruhigend über den Rücken. Der körperliche Trost tat Helene gut, und so ließ sie sich von Georg halten. Sie vermisste ihre Mutter, die sie immer zu trösten wusste. Manche Dinge
Weitere Kostenlose Bücher