Der geheimnisvolle Garten: Roman (German Edition)
noch immer den Umriss der brüderlichen Hand. Johannes schüttelte den Kopf, nachdem er das Ergebnis ihrer Schlägerei betrachtet hatte.
»Das letzte Mal, dass wir uns so geprügelt haben, liegt schon eine ganz Weile zurück«, dachte er laut. Georg nickte nur ernst, und Johannes verstand, dass der Bruder nicht vorhatte, ihren Streit in das seichtere Gewässer geteilter Kindheitserinnerungen zu treiben. Er sah an sich hinunter: »Ich werde sagen, ich bin auf dem Rückritt vom Pferd gefallen.«
Zusammen schafften sie schnell Ordnung, dann ging jeder nach Hause. Johannes war dankbar, dass die Frau, wegen der er sich gerade mit seinem Bruder geprügelt hatte, die nächsten Tage in Zionshill verbringen würde. Es fiel ihm auch so schon schwer genug, seiner Frau unter die Augen zu treten. Allein der Gedanke an Helenes Rückkehr, wenn sie wieder mit ihnen unter einem Dach lebte, war ihm fast unerträglich.
Zionshill, Mai 1904
H elene hatte ihren üblichen Aufenthalt in Zionshill zunächst nur um ein paar Tage verlängert, dann entschloss sie sich, auf unbestimmte Zeit ganz von ihrer Gemeindearbeit in Neu Klemzig zurückzutreten. Johannes brauchte sie ihren Wunsch nicht erst lange zu erklären, er verteilte die laufenden Aufgaben gleich auf Mitglieder des Kirchenrats. Helene begründete ihren Entschluss mit dem neuen Lehrplan, den sie für ihre Schüler erstellen musste. Jetzt, da sie die neuen Lehrmittel, die Johannes in Adelaide bestellt hatte, in Händen hielt und die Schulstunden damit gestalten konnte, hatte sie vor, den Unterricht auf vier Tage auszudehnen, doch dafür würde sie wohl unter den Aborigines einen oder sogar zwei Hilfslehrer ausbilden müssen.
Helene hielt es für einen glücklichen Umstand, dass die neuen Materialien gerade jetzt eingetroffen waren, da sie den Abstand zu Neu Klemzig, oder besser gesagt zu Johannes und Anna, so dringend nötig hatte. Johannes ging es sicherlich nicht anders.
Abgesehen davon gab es eine Vereinbarung zwischen ihnen, an die sich beide bislang eisern hielten. Sie wollten den »Vorfall«, wie Johannes es nannte, so gut es ging, vergessen. Der »Vorfall«, das war ein Fehler gewesen, ein Ausrutscher vom rechten Weg. Es war ihre Pflicht, dafür zu sorgen, dass dieser Fehltritt nicht das zerstörte, was ihnen im Leben wichtig war.
Dennoch: Etwas in Helene wünschte sich, dass nicht alles vergessen wäre. Trotz der Absprache hatte sie insgeheim gehofft, Johannes würde ihr vielleicht einen langen Blick schenken oder sie wie zufällig am Ärmel streifen, wenn sie gemeinsam über den Rechnungsbüchern brüteten. Doch nichts dergleichen war geschehen. Manchmal fragte sie sich, ob sie den Kuss nicht nur geträumt hatte und nun wie im Fieber phantasierte.
Aber was hatte sie erwartet? Dass Johannes nach einem Kuss die Familie und die Gemeinde im Stich ließ, um mit ihr durchzubrennen? Sie lachte laut auf. Völlig undenkbar! Das hätte sie auch gar nicht gewollt. Es ließe sich mit ihren eigenen Werten nicht in Einklang bringen. Obwohl sie nicht mehr sicher war, ob sie die noch so genau kannte. Mit dem Kuss hatte sie eindeutig gegen jede Moral, gegen alle Anforderungen der lutherischen Kirche verstoßen.
Plötzlich fielen ihr wieder die üblen Unterstellungen und Vergleiche ein, die Gottfried über sie, Georg und Johannes in seinem schwarzen Buch angestellt hatte, und ein Schauder lief ihr über den Rücken:
Helene ist wie die begehrenswerte Bathseba, die gleich zwei Männern zum Verhängnis wurde. Der eine wurde zum hinterhältigen Mörder, indem er ihren Gatten in den Krieg schickte, um mit Bathseba schlafen zu können. Die wunderbare Bathseba, gesegnet und verflucht zugleich mit einem Körper wie aus Alabaster, dem kein Mann widerstehen kann. Aber ist Bathseba wirklich so unschuldig, wie sie es uns glauben machen will? Ich sage: Nein! Sie weiß um ihre Macht über die Triebe der Männer, und sie genießt es, wenn sie sich nach ihr verzehren, labt sich geradezu an deren Niedergang.
Der arme Georg wird zu Uriah, Bathsebas Mann, der dem wollüstigen Treiben eines anderen Mannes zum Opfer fällt.
Bleibt nur noch Johannes. Johannes ist natürlich König David, der einst ein einfacher Schäfer war und den der Herr in seiner endlosen Güte zum König gesalbt hat. Hat es der Herr mit David vielleicht zu gut gemeint? David hat es IHM nicht gerade gedankt, als er seine Macht nutzte, um sich zwischen den Schenkeln der Frau eines anderen zu betten.
König David! Diesen Vergleich hatte
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