Der geheimnisvolle Garten: Roman (German Edition)
alle erst aufblicken durften, nachdem das erlösende »Amen!« gesprochen war. Es war immer dieses eine Bild, das Katharina vor Augen hatte, wenn sie sich an die Heimat und die Eltern erinnerte.
Sie schluckte schwer. Katharina hatte sich eigentlich verboten, an den Vater zu denken – hatte das Wort »Vater« gänzlich aus ihrem Wortschatz gestrichen. »Vater« – das stand für alles, was sie hasste, und das war in erster Linie die Kirche, seine Kirche, die Lutheraner. Wie konnten fromme Menschen dermaßen grausam sein? Wie kam es, dass Menschen, denen Nächstenliebe doch das höchste Gut sein sollte, die eigene Tochter mit Schimpf und Schande vom Hofe jagten? Dabei hatte ihre Sünde doch nur darin bestanden, einen Mann zu lieben, der einen anderen Glauben hatte. Wie sie die Lutheraner hasste, diese selbstgerechten Frömmler!
Katharinas Lippen bebten, die Verletzung war selbst nach fast fünfzehn Jahren immer noch nicht verheilt. Wenn es nach ihr ginge, konnten alle Lutheraner zum Teufel gehen. Bewusst hatten sie und Matthias sich damals im Norden von Queensland niedergelassen, zweitausendfünfhundert Seemeilen von dem Dorf der Salkauer Auswanderer entfernt.
Wie unwahrscheinlich es da gewesen war, dass sie und Helene sich unter diesen Bedingungen wiedersehen würden, und doch war es so gekommen. Und jetzt das!
Wo blieb Helene denn nur? Katharina scheuchte ihre Töchter Magdalene und Ruth vom Hochbett ihrer Kabine, die sich die Familie mit Helene teilen sollte.
»Nicht ausruhen, ihr zwei! Habe ich euch nicht gesagt, dass ihr nach eurer Tante suchen sollt?«
Ruth verzog das Gesicht.
»Wir haben doch schon überall geschaut, Mutter! Das Schiff legt gleich ab, wir wollen aufs Deck. Bitte, Mutter! Tante Helene ist sicher längst oben bei Vater und Peter.«
Schon so spät? Panik breitete sich in Katharinas Brust aus, doch sie wollte die Mädchen nicht verschrecken. Sie atmete hörbar aus.
»Schon gut, dann lasst uns an Deck gehen.«
Sofort rafften die Mädchen ihre weißen Baumwollröcke und rannten die Stufen nach oben, so dass Katharina zurückfiel. Sie schüttelte langsam den Kopf. Was war nur passiert? War Helene vielleicht etwas zugestoßen? Katharina erreichte in dem Moment die Reling, als die Matrosen die Leinen losmachten. Ihr Herz schlug schneller. Die Mädchen winkten den zurückbleibenden Angehörigen und Freunden der Reisenden zu, während der kleine Peter nur Augen für das Pferd hatte, das, sicher vertäut, in einer großen Holzkiste auf dem Vorderdeck untergebracht war. Magdalene drehte sich um.
»Mama, wo ist denn Tante Helene nur? Sie wird das Schiff doch nicht verpasst haben, oder?« Die Stimme der jungen Frau klang besorgt.
»Ich weiß es nicht.«
Katharina hatte die Hoffnung noch nicht aufgegeben. Mit den Augen suchte sie den Pier nach einem Zeichen der Schwester ab. Doch die Menschen wurden kleiner, schrumpften schließlich zu hellen Punkten, und als das Schiff in die Moreton Bay bog, fiel Katharina innerlich zusammen. Verzweifelt blickte sie zurück. Helene! Katharinas Augen wanderten vom Meer zu der roten Zedernkiste, die neben dem Pferd festgebunden war. Im Vergleich zur Pferdebox nahm sie sich bescheiden aus, fast wie ein Puppenmöbel, doch Katharina war sie schon vor Stunden aufgefallen. Ihr Blick ruhte auf dem einfachen Messingverschluss, dann wanderte er auf das Schild darüber, auf dem in schwarzer Schrift der Name ihrer Schwester stand. Wieso nur war ihre Reisetruhe an Bord und sie selbst nicht? Lieber Gott, mach, dass Helene nichts passiert ist!
Cairns, 20. Januar 2010
D ie Schiebetür öffnete sich, und Natascha trat aus dem Flughafengebäude. Die feuchte Hitze traf sie wie ein Schlag. Es fühlte sich an, als hätte eine Stewardess sie von oben bis unten in diese heißen Frotteetücher eingewickelt, die einem im Flugzeug zum Frischmachen gereicht wurden. Es war kurz nach sieben Uhr morgens, doch trotz der frühen Stunde schien die Sonne schon hellwach zu sein. Wie ein Heizstrahler, der ebenfalls kaum Anlaufzeit benötigte, bis er orangefarben glühte. Natascha sah an sich hinunter. Sie trug eine lange Jeans und ihre alten Turnschuhe. Wieso hatte sie ihre Sandalen nicht als Handgepäck mitgenommen? Sie stellte den kleinen Rucksack und den Rollkoffer ab, um den Pullover auszuziehen. Darunter trug sie ein schwarzes T-Shirt. Sie beschirmte ihre Augen mit der Hand vor der Sonne und blickte in die schweren Wolken, die sich wie ein getränkter Wattebausch vor die Sonne geschoben
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