Der geheimnisvolle Garten: Roman (German Edition)
Arme hielt sie dabei in schützender Haltung ausgestreckt, wohl um das Wasser abzuwehren, das der Junge mit beiden Händen auf sie zuschaufelte.
Das selbstvergessene Spiel von Mutter und Kind zog Natascha wie magisch an. Etwas an der Szene berührte sie. Es war diese unbedingte Freude zweier Menschen aneinander, die Dritte kategorisch ausschloss. Dieses Gefühl absoluter Geborgenheit in der Gegenwart des anderen; die Gewissheit, zusammenzugehören. Natascha schluckte trocken und befeuchtete ihre Lippen mit der Zunge. Sie dachte an Regina. An jene fernen Sommertage im Garten, die Zinkwanne unterm Apfelbaum. Wie alt war sie damals gewesen? Fünf, sechs? Das immer gleiche Sommerritual, wenn sie, vor Ungeduld zappelnd, die Mutter aufforderte, die Wanne zu füllen, nur um Regina dann den Schlauch wegzunehmen und sie von oben bis unten nass zu spritzen. Dann der gespielte Schreck der Mutter, der so sicher wie das Amen in der Kirche folgte. Und zum guten Schluss die fürchterliche Rache, wenn Regina die Wanne kurzerhand über der kreischenden Tochter ausgoss.
In der Erinnerung sah Natascha die Kindheitserinnerung wie auf einem überbelichteten Film, und der Schmerz über den Verlust der Mutter stach ihr wie ein Messer in die Brust. Wieder fragte sie sich, ob die Mutter von der Urkunde überhaupt gewusst hatte. Hatte sie sich mit der Frage nach einer möglichen Verwandtschaft zu diesem Stamm auf der anderen Seite der Erde auseinandergesetzt? Und wenn ja, warum hatte sie nie mit Natascha darüber gesprochen?
Natascha atmete laut aus und konzentrierte sich dann, um sich zu beruhigen, wieder auf die Ausstellung. Ab und zu war unter den Orta auch ein Weißer zu sehen. Entweder der Fotograf, der fürs eigene Album mit den Einheimischen posierte, oder ein Siedler, der mit dem Gewehr auf der einen und einem Aborigine auf der anderen Seite stolz den Fuß auf ein erlegtes Tier gestellt hatte. Bei den Weißen auf den Fotos handelte es sich immer um Männer – mit einer Ausnahme. Natascha blieb vor dem grobkörnigen Abzug einer Fotografie stehen. Eine europäisch aussehende Frau im weißen Kleid erregte ihre Aufmerksamkeit. Die Frau lächelte und hielt eine etwa gleichaltrige Aborigine im Arm. Helen Tanner und Amarina in Moondo, Aufnahme um 1910. Natascha blieb stehen, ging dann so nah ans Bild wie möglich. Helen. Mit diesem Namen waren die Briefe an ihre Großmutter unterzeichnet, die sie in der Schublade ihrer Mutter gefunden hatte. Nataschas Puls ging schneller. War das ein Zufall, dass sie den Namen hier wiederfand? Das glaubte sie eigentlich nicht. Natascha sah auf die Uhr, schon kurz vor zwei. Sie konnte es kaum abwarten, mit Mitch über ihre Entdeckung zu sprechen.
Natascha rührte angespannt in ihrem Cappuccino, als Mitch vor ihr stand. Fast hätte sie ihn nicht wiedererkannt. Um Hüfte und Po hatte er ein braunes Tuch gewickelt, es sah aus wie eine Windel. Sein Oberkörper war nackt und wie das Gesicht mit weißen Linien und roten Punkten übersät. In der Hand hielt er ein Didgeridoo, das er wie zur Erklärung hochhielt: »Von Viertel nach eins bis zwei: Didgeridoo-Demonstration mit Mitch.« Unter anderen Umständen hätte sie ihn vielleicht irritiert angeschaut und ihm ein paar Fragen zu seiner Tätigkeit im Kulturzentrum gestellt, doch jetzt brannte ihr das Foto mit der weißen Frau unter den Nägeln. Ungeduldig wies sie ihrem Gegenüber den Stuhl an.
»Ich glaube, ich habe die Briefeschreiberin gefunden.«
Mitch verzog die Lippen.
»Wen?«
»Helen. Diese Frau, die im Namen der Orta an meine Großmutter Maria geschrieben hat. Es gibt ein altes Foto in der Ausstellung, worauf eine Helen und eine Aborigine namens Amarina zu sehen sind. Ich kann gar nicht glauben, dass ich so schnell fündig geworden bin! Gibt es hier vielleicht jemanden, der mir mehr über diese Frauen sagen kann?« Sie blickte ihn erwartungsvoll an. Mitch rieb sich übers Kinn.
»Hm, davon könnte höchstens der Dorfälteste noch etwas wissen, aber der ist schon seit Jahren ganz wirr im Kopf.«
Nataschas Mut sank.
»Oder aber ich.«
Natascha horchte auf und legte ihre Stirn in Falten. »Du?«
»Ich hätte es dir wahrscheinlich gleich sagen sollen, als du mir im Auto von den Briefen erzählt hast.«
»Was denn?« Natascha war jetzt bis zum Rand ihres Stuhls vorgerutscht.
»Also, diese Frau, diese Helen, die im Namen der Orta Briefe nach Berlin geschrieben haben soll, dabei kann es sich eigentlich nur um Helen Tanner handeln.«
Natascha
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