Der geheimnisvolle Garten: Roman (German Edition)
machte große Augen und wartete auf eine Erklärung.
»Helen Tanner kennt hier oben jeder, oder besser gesagt kannte jeder, denn natürlich lebt sie längst nicht mehr. A Do-Gooder, eine Wohltäterin der Gemeinde. Ihr gehörte unter anderem Rosehill, eine Farm in Meena Creek. Sie hatte wohl eine besondere Beziehung zu den Orta. Keine Ahnung, warum. Die andere Frau, die du auf dem Bild gesehen hast, galt als ihre Freundin.«
»Und wieso hast du mir das nicht gleich gesagt?«
Mitch verschränkte verteidigend die Arme vor der Brust.
»Du bist doch schließlich Journalistin. Ich dachte, ich bereite dir eine Freude, wenn du das selbst herausfindest.« Er grinste unverschämt. Natascha schüttelte den Kopf wie ein Anwalt über einen hoffnungslosen Fall.
»Was kannst du mir sonst noch über diese Frau verraten?«
Mitch streckte die Beine aus.
»Nicht viel. Am besten, du schaust dich mal in Rosehill um. Die alte Farm ist heute das Tourismusbüro von Meena Creek.«
»Ist das weit von hier?« Sie wollte so schnell wie möglich hin.
»Keine halbe Stunde. Wenn du willst, fahr ich dich. Dauert aber noch ein wenig, ehe ich hier wegkann.« Er tippte auf seine Armbanduhr: »Viertel nach zwei bis drei: Bumerang- und Speerwerfen mit Mitch. Wenn du magst, kannst du zuschauen.«
Rosehill, April 1911
M it gesenktem Blick, die Arme unter der Brust verschränkt, ging Helene unruhig im Garten auf und ab. Ihr Tee war längst kalt. Die Teestunde … Was noch vor weniger als einem Monat ihre liebste Zeit gewesen war, Minuten der Einkehr und Ruhe im geschäftigen Farmalltag, hatte sich in eine Stunde des Schreckens verkehrt. Sie ertrug es nicht länger, auf der Bank zwischen den Schmetterlingsbäumen zu sitzen.
Seit ihrer Rückkehr war Helene ganz allein auf Rosehill. Von Nellie fehlte noch immer jede Spur. Von Parri und Amarina, die sich in Brisbane nach den gestohlenen Kindern umhören wollten, hatte sie noch nichts wieder gehört. Katharina und ihre Familie blieben ebenfalls weiter verschollen. Die Zeitungen ergingen sich in allerlei Spekulationen, was mit der Yongala in jener stürmischen Nacht wohl passiert sein könnte. Vertraute sie den Zeitungen, müsste auch Helene glauben, das Schiff sei mit allen Passagieren untergegangen ohne jede Hoffnung auf Überlebende. Doch solange man weder den Dampfer noch die Leichen gefunden hatte, weigerte sie sich, es zu akzeptieren, und tat diese Artikel verzweifelt als reine Sensationshascherei ab.
Der Einzige, mit dem sie über all dies sprach, war John Tanner, und auch das eigentlich nur, weil Tanner noch immer regelmäßig zur Teestunde vorbeischaute. Heute war er bereits da gewesen, hatte wie schon zuvor versucht, sie zu drängen, einen Verwalter für die Farm einzustellen. Doch das wäre Helene wie ein Verrat an der Schwester vorgekommen, wie ein Zugeständnis an den düsteren Chor der Presse.
Wie ein Raubtier im Käfig zog Helene ihre Kreise im Garten, dachte nach, ohne zu einem Ergebnis zu kommen. Unwillkürlich griff sie sich an den Hals; sie spürte die Oberfläche des Amuletts. Sie nahm es in die Hand und drückte es fest. Sie schluckte, doch der Kloß im Hals blieb. Was besaß sie sonst schon noch? Ihre persönlichen Sachen waren in der Truhe gewesen, die sich zuletzt an Bord der Yongala befunden hatte. Der Himmel allein wusste, warum sie selbst die Briefe ihrer Eltern bei ihrer hastigen Abreise nach Brisbane mitgenommen hatte. Diese Briefe waren ihre letzte Verbindung zur Heimat gewesen, zu ihrer längst vergangenen Zeit als Tochter. Wie wünschte sie sich jetzt die Mutter an ihre Seite.
Mutter … wenn außer ihr und Amarina jemand wusste, wie es sich anfühlte, seine Kinder zu verlieren, dann ihre Mutter. Zum ersten Mal kam Helene in den Sinn, wie sehr ihre Mutter gelitten haben musste, als sie zuerst Katharina und dann die jüngere Tochter loslassen musste, die es ebenfalls ausgerechnet ins unerreichbare Australien gezogen hatte. Nie ein böses Wort, nie hatte sie sich über Helenes weitreichende Entscheidung beschwert. Warum eigentlich? Bedeutete es ihr etwa nicht besonders viel, dass nun auch noch die andere Tochter ging? Oder konnte sie ihren Gefühlen keinen Ausdruck verleihen, weil sie es nie gelernt hatte? Wenn Helene genauer darüber nachdachte, hatte sie die Mutter nur ein einziges Mal weinen sehen. Auf dem Friedhof bei einer Beerdigung, als ihre Jugendfreundin überraschend gestorben war. Zu Hause hatte sie nie auch nur eine Träne vergossen, oder wenn doch, dann
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