Der geheimnisvolle Garten: Roman (German Edition)
lebte. Cardinia war in jeder Hinsicht eine neue Generation, der sich in der Zukunft bestimmt Chancen bieten würden, von denen ihre Mutter nicht mal träumen konnte. Amarina ängstigten diese Möglichkeiten zugleich auch, denn Cardinia hatte sie quasi überholt und bewegte sich auf fremdem Terrain, bei dessen Erkundung Amarina der Tochter nicht mehr helfen konnte. Bei allem mütterlichen Stolz befürchtete sie, dass Cardinia ihr viel zu früh entgleiten könnte. Aus diesem Grund war es ihr auch so wichtig, dass Mutter und Tochter viel Zeit beim Stamm verbrachten. Und nun war Cardinia in den Händen weißer Missionare, die ihr die schwarze Seele rauben wollten. Das glaubte zumindest Amarina. Solange Cardinia Helenes Schülerin war, konnte Amarina einen gewissen Einfluss nehmen, wenn sie glaubte, dass die weiße Frau ihrer Tochter Dinge beibrachte, die ihr entweder nichts nutzten oder in den Augen der Mutter gar schlecht für sie waren. Sie nahm sie kurzerhand aus dem Unterricht, wenn ihr dort zu viel gebetet wurde. Sie brauchten schließlich keinen weißen Gott, sie hatten ihre Traumzeit. Aber jetzt gab es nichts, was Amarina tun konnte, um Cardinia vor den weißen Lehren zu schützen, und je länger dieser Zustand anhielt, desto größer war die Gefahr, dass Cardinia sich von ihrer Kultur entfernte – dass sie sich von der eigenen Mutter entfernte. Neben alldem Kummer um das leibliche Wohlbefinden der entführten Kinder war es besonders diese Angst um Cardinias Seele, die Amarina das Herz zu brechen drohte.
Helene küsste das Amulett und ließ es los. Sie fühlte Amarinas Schmerz, und es war hart, Amarina gerade jetzt zurückzulassen, aber es ging nicht anders.
Nicht zuletzt, weil sie sich mit Katharina aussprechen musste. Dieser dumme Streit zwischen ihnen! Auf Rosehill wollte sie erneut versuchen, der Schwester zu erklären, weshalb sie auf ihren Vorschlag nicht eingehen konnte – jedenfalls jetzt noch nicht. Wenn sie tat, was die Schwester von ihr verlangt hatte, würde sie damit einen Sturm lostreten, davon war Helene überzeugt. War sie nicht genau deshalb geflohen, damals, als sie mit Nellie nach Rosehill gekommen war? Um genau das zu verhindern?
Und doch wusste sie, dass Katharina recht hatte. Es gab diese eine Möglichkeit, Nellie zurückzubekommen, und wenn nichts anderes mehr half, wollte sie die auch ausschöpfen. Katharina hatte sie bedrängt, nicht länger abzuwarten, und warf ihr schließlich sogar vor, sich nicht wie eine Mutter zu verhalten: »Eine Mutter weiß, was am wichtigsten ist, und das sind die Kinder!« Es wurde laut zwischen den Schwestern, am Ende schrien sie einander sogar an.
Dieser Vorwurf, sie würde nicht genug um ihre Tochter kämpfen, hatte Helene im Innersten getroffen. Damit hatte Katharina den Finger in die Wunde gelegt. Sie fühlte sich sowieso schon schuldig, weil sie Nellie allein bei den Orta gelassen hatte; eine Tatsache, auf die die Schwester völlig unnötigerweise erneut hingewiesen hatte. War sie wirklich eine schlechte Mutter?
Dabei hatte Helene längst schon darüber nachgedacht, worauf die Schwester drängte, doch sie kam beim besten Willen zu keinem Ergebnis. Katharinas beschwörende Rede half da wenig.
Hörte sie auf ihre Schwester, dann gefährdete sie andere, würde das Leben Unschuldiger verpfuschen, vielleicht sogar das ihres eigenen Kindes. Sie konnte nicht vorhersehen oder berechnen, was für Folgen es für Nellie haben würde, wenn sie erst mal den Sturm entfacht hatte und die Dinge nicht mehr aufzuhalten waren. Zu viele Opfer, dachte Helene, zu viel Leid. Durfte sie über das Glück anderer entscheiden? Sie fand, nein. Wer durfte sich das schon anmaßen?
Andererseits – wenn es wirklich der einzig gangbare Weg war, um Nellie wiederzubekommen, dann sollte es so sein.
Nur im äußersten Notfall, sagte sie sich zur Beruhigung, nur wenn alle anderen Maßnahmen ausgereizt waren. Jetzt glaubte sie erst einmal an Parris Versprechen, und wenn er die Kinder fand, wurde alles gut.
Am übernächsten Morgen erreichte die Cooma Flat-top Island. Die Insel diente als Ankerplatz für die Reisenden von und nach dem Küstenstädtchen Mackay. Die See war zwar am Morgen noch ungewöhnlich rauh und schmutzig, dennoch fühlte sich Helene halbwegs ausgeschlafen. Sie wirkte sogar weit weniger zerschlagen als so manch anderer Passagier. Im Gegensatz zu den zwei Damen in ihrer Kabine hatte sie das Abendessen nicht ausgespien. Wer einmal mit dem Schiff von Europa nach
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