Der geheimnisvolle Garten: Roman (German Edition)
dafür, wie sich die Dinge entwickelt hatten.
Manchmal dachte sie natürlich an Neu Klemzig und ihre Freunde dort zurück. An Anna, an Luise. Sie vermisste die Freundinnen, aber Familie, das war doch etwas anderes. Auch wenn die Eltern fehlten, so verspürte sie dennoch fast so etwas wie Glück. Dabei hatte sie schon geglaubt, dieses Gefühl sei nur anderen vorbehalten. Denen, die gottgefällig lebten und die, anders als sie, immer die richtigen Entscheidungen getroffen hatten.
Aus dem Augenwinkel sah Helene, wie etwas an ihr vorbeiflatterte. Ein Schmetterling. Sie schaute ihm nach, er flog zu einem Baum mit grausilbriger Borke. Sie kannte den Namen des Baumes nicht, doch er stand in voller Blüte. Dichte, duftende Blumen aus zartem Rosa bedeckten seine ausladenden Äste, die schwer an der blühenden Pracht zu tragen hatten. Der Schmetterling ließ sich auf einer der größeren Blüten nieder. Er war wunderschön. Seine Flügel schimmerten metallisch blau und trugen eine schwarze Zeichnung. Helene hatte nie einen größeren Schmetterling gesehen. Ein zweiter erschien in ihrem Blickfeld und umtanzte die oberen Äste. Dann sah sie einen dritten … Auf einmal durchfuhr es sie wie ein Stich. Wo hatte sie das alles schon einmal gesehen? Fieberhaft begann sie zu überlegen.
Und dann fiel es ihr wieder ein. Sie hatte es geträumt. In jener Nacht am Fluss. Und da war noch etwas anderes gewesen … Richtig. Eine Melodie, die sie im Traum seltsam berührt hatte. Doch die Töne selbst entzogen sich ihr, sosehr sie auch ihr Gedächtnis zermarterte. Und da war noch etwas, was mit dieser vergessenen Melodie zusammenhing …
Plötzlich überkam es Helene siedend heiß. Warrun! Der Stammesführer der Wajtas nahe Neu Klemzig. Hatte der Alte mit den gelben Zahnstummeln sie nicht gewarnt, ihren Gesang nicht zu vergessen?
Helene wurde mit einem Mal ganz seltsam zumute. Was hatte es nur mit diesem Traum auf sich und damit, dass sie die Schmetterlinge, die sie doch nur erträumt hatte, plötzlich vor sich sah? Sie wünschte, sie könnte sich erinnern, aber sosehr sie sich auch das Hirn zermarterte – da war nichts.
»Sind sie nicht wunderschön?« Katharinas Worte rissen Helene aus ihren Grübeleien. Unbemerkt hatte die Schwester neben ihr Platz genommen und reichte ihr einen Becher Tee. »Man nennt sie Ulysses.« Sie wies mit dem Kinn zu dem rosafarbenen Baum. »Der da scheint sie anzuziehen, ist wohl ihre Futterquelle.«
Helene umfasste den Becher und dachte nach. Dann sah sie die Schwester mit einem Leuchten in den Augen an:
»Hast du was dagegen, wenn ich vor meinem Fenster noch einen oder vielleicht sogar zwei dieser Bäume pflanze?«
Katharina zuckte mit den Schultern. »Warum nicht? Platz genug ist ja da.«
Helene drückte ihrer Schwester einen Kuss auf die Wange.
»Danke, damit machst du mir eine große Freude.« Sie sprang auf, um das Beet vor dem Fenster genauer zu inspizieren.
Katharina sah ihr verdutzt nach. So fröhlich hatte sie ihre kleine Schwester noch nicht erlebt, seit diese bei ihr lebte. Sie fasste sich ungläubig an die Wange. Einen Kuss hatte sie von ihr auch noch nie bekommen.
Einen Monat später saß Helene auf der Veranda, Nellie zu ihren Füßen, als ein Reiter sich Rosehill in leichtem Galopp näherte. Er kam von der Farm am Fluss. War es einer der Viehtreiber, oder gab sich etwa John Tanner selbst die Ehre? Ein Border Collie schoss schnell wie ein Pfeil und laut kläffend am Pferd vorbei. Helene meinte daraufhin, ein kehliges Lachen zu hören, doch der Reiter war noch zu weit entfernt, als dass sie hätte erkennen können, wem das Lachen gehörte. Der Hund wartete an der Pforte zu Rosehill auf seinen Besitzer, schaffte es aber nicht, ruhig auf den Hinterpfoten sitzen zu bleiben. Immer wieder sprang das junge Tier erregt auf, um nach seinem Herrchen zu sehen.
»Sitz, Digger, wie ich’s dir beigebracht habe. Wo sind denn nur deine Manieren geblieben?« Der schwarz-weiße Hund kämpfte offensichtlich mit seiner überbordenden Energie und trippelte um seinen Besitzer herum, als dieser vom Pferd abstieg. Den Zeigefinger hebend, warf John Tanner dem Hund einen strengen Blick zu, bis der schließlich begriff und sich auf die Hinterpfoten setzte.
»Gut so, oder ich hätte dich noch mitsamt dem alten Gaul in die Abdeckerei gegeben.«
Als John Helene bemerkte, lüpfte er schnell seinen Akubra, seinen Filzhut aus feinstem Hasen-Unterhaar, den die Männer als Schutz vor der sengenden Sonne oder vor
Weitere Kostenlose Bücher