Der geheimnisvolle Garten: Roman (German Edition)
weiterer Milchkaffee an diesem Morgen, und sie würde platzen.
»Also, Miss Miles, was ist mit dem Amulett?«
»Jennifer.«
»Wie bitte?« Dann fiel es ihr wieder ein. Man sprach sich in Australien mit dem Vornamen an, egal ob einer Prime Minister oder Professor war. Natascha nickte.
»Jennifer, selbstverständlich.«
Jennifer legte das Amulett auf den Tisch zwischen ihnen.
»Wie ich erwartet hatte, ist das Artefakt nicht aus Stein, sondern aus Akazienholz, das aus den Adelaide Hills stammt.« Sie deutete mit dem kleinen Finger auf den Stein. »Das ist ein Opal, vermutlich aus der Wüste im Norden.«
Natascha nahm das Amulett in die Hand und befühlte es.
»So weit ist die Sache nicht weiter ungewöhnlich. Besonders ist etwas ganz anderes. Das Amulett stammt mit einiger Sicherheit von den Wajtas, einem Aborigine-Stamm, der seit der Epidemie im Jahre 1836 beinahe ausgestorben ist.«
Natascha war auf dem Sitz nach vorne gerutscht und hörte wie gebannt zu.
»Pocken. Von europäischen Siedlern nach Australien eingeschleppt. Die einheimische Bevölkerung stand diesen Erregern völlig wehrlos gegenüber. Ihr Immunsystem kapitulierte vor den neuen, ungewohnten Krankheiten, und so war es leider keine Seltenheit, dass europäische Krankheiten ganze Stämme in der neuen Welt dahinrafften.« Jennifer Miles stand auf, steckte ihre Hände in die Taschen des weißen Kittels und ging vor der breiten Glasfront auf und ab. »Dieser Stamm, die Wajtas, war etwas Besonderes, und zwar in dem Sinn, dass Frauen im Besitz der magischen Kräfte und ihrer Symbole waren.«
»Normalerweise hatten also die Männer die Macht über den Stamm?«
»Richtig. Eigentlich war das auch bei den Wajtas so. Auch dort hatten die männlichen Stammesälteren offiziell das Sagen, doch anders als sonst üblich, hatten ausschließlich die weisen Wajtas-Frauen Zugriff auf den Tjuringa. Nur sie wussten, wo er aufbewahrt war; Männer durften ihn nicht einmal berühren. De facto handelte es sich also bei den Wajtas um ein Matriarchat, wenn auch um kein offenes. Sozusagen ein Ausnahmefall in der indigenen Bevölkerungsgeschichte Australiens. Und damit natürlich auch von besonderem Interesse.«
»Für die Forschung, meinen Sie?«
»Ja. Für die Forschung, aber auch für die australische Kulturgeschichte insgesamt. Ich will ganz offen zu Ihnen sprechen. Dieses Amulett ist ein ausgesprochener Glücksfall. Es untermauert, was wir in der Theorie eigentlich schon längst wissen, aber noch nicht hinlänglich belegen konnten.«
»Der fehlende Beweis für das bislang nur als These existierende Matriarchat?«
»Genau. Sehen Sie. Wie ich Ihnen bereits gestern erzählt habe, sind Tjuringas eigentlich länglich. Sie könnten jetzt sagen, ihre Gestalt sei phallisch, und ich würde Ihnen da gar nicht widersprechen wollen. Dieser Tjuringa hier ist rund, das weibliche Gegenstück sozusagen, und die Zeichen auf ihm, soweit wir sie identifizieren konnten, sind ebenfalls allesamt weiblich. Haben Sie vom Schöpfungsmythos der Regenbogenschlange gehört? Um sie geht es in der Hauptsache. Sie gilt den Aborigines als Schöpfer der Traumzeit. Ich will hier nicht zu weit ausholen. Sollten Sie sich für die Traumzeit und die Schöpfungslegenden der Aborigines interessieren, gebe ich Ihnen gerne eine Literaturliste an die Hand. Jedenfalls ist dieses Amulett, das Sie mir gestern gebracht haben, für die Forschung, aber auch für die Urbevölkerung unglaublich wertvoll.«
»Welchem Zweck dienen diese Tjuringas denn eigentlich genau?«
Jennifer Miles zog ihre Brille tiefer auf die Nasenspitze und schaute Natascha über den Rand hinweg an.
»So einfach lässt sich diese Frage leider nicht beantworten. Zuallererst ist der Tjuringa ein magischer Gegenstand, der als heilig verehrt wird und zu dem nur Zugang hat, wer initiiert ist. Das gilt auch für diesen weiblichen Tjuringa. Die Frauen mussten sich schwierigen, oftmals schmerzhaften Ritualen unterziehen, um sich den Umgang mit dem Artefakt zu verdienen.«
»Was waren das für Rituale?«
Die Wissenschaftlerin seufzte jetzt und schob die Brille wieder auf die Nasenwurzel zurück.
»Der ganze Komplex des Rituellen in der indigenen Kultur ist für uns Weiße kaum nachvollziehbar. Nicht zuletzt deshalb, weil wir nur sehr wenig über die magische Welt der Aborigines wissen. Die Stämme schützen ihr Wissen, es soll geheim bleiben, ist für uns Außenstehende tabu. Mit einem Weißen über den Stammes-Tjuringa zu sprechen wäre für
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