Der geheimnisvolle Garten: Roman (German Edition)
war kalt geworden.
»Debra?«
Die ältere Frau wandte ihr das Gesicht zu.
»Ich glaube, es ist Zeit zu gehen.«
Debra warf einen Blick auf ihre Armbanduhr, dann nickte sie. »Wenn Sie möchten, können Sie gerne bei mir übernachten. Tanunda ist eine Stunde Fahrt von hier.«
Natascha legte ihr die Hand auf den Arm.
»Danke, aber Sie haben schon genug für mich getan.« Sie blickte sich um. »Es gefällt mir hier. Können Sie mir ein Hotel in der Gegend empfehlen?« Nichts schien Debra eher in die Gegenwart zurückzurufen, als wenn man sie um Hilfe fragte. Sie wies mit dem Zeigefinger auf die nächste Straßenecke.
»Das Pier-Hotel soll ganz nett sein oder das Beach Inn weiter die Straße runter.«
Natascha zahlte und räumte ihre Sachen zusammen. Alles, was sie für ein, zwei Nächte brauchte, war in ihrem Rucksack, den sie sich über die Schulter warf. Das Metall des Stuhls kratzte über den Betonboden, als sie aufstanden.
»Warten Sie, ich bringe Sie selbstverständlich zum Auto.«
»Keine Umstände, bitte. Ich kenne den Weg, und an einer alten Schachtel wie mir vergreift sich so schnell niemand.«
»Sind Sie sich da sicher?«
»Verdammt sicher. Glauben Sie mir, ich wünschte manchmal, es wäre anders.« Debra warf den Kopf in den Nacken und gab wieder dieses warme Lachen von sich, das Natascha gleich gemocht hatte.
»Ich würde Ihnen gerne selbst die alten Gemeinden zeigen. Was meinen Sie?«
Natascha überlegte kurz. Das Angebot hörte sich verlockend an. Sie wollte morgen früh noch einmal in die Bibliothek, um dort hoffentlich doch etwas über Amarina herauszufinden, aber danach wäre sie frei. Natascha wollte mit dem Zug zu Debra rausfahren, doch diese Idee traf auf erbitterten Widerstand. Schließlich gab sie nach. Punkt zwölf würde Debra sie an der Bibliothek abholen.
Obwohl Natascha todmüde war, konnte sie nicht einschlafen. Immer wieder tauchten Bilder vor ihr auf; Schemen von Menschen, die längst nicht mehr lebten und die sie nie gekannt hatte. Debras Erzählungen vom Nachmittag hallten noch in ihr nach. Die resolute Dame hatte mit ihrer lebendigen Art die Vergangenheit geradezu gegenwärtig werden lassen. Es war faszinierend gewesen, ihren Geschichten zu lauschen.
Natascha wälzte sich auf die andere Seite, entschlossen, endlich zur Ruhe zu kommen. Doch immer, wenn ihr trotz des dröhnenden Aircondition-Kastens endlich die Lider zufielen und ihr die Kontrolle über die Gedanken langsam entglitt, sah sie ihn vor sich. Einen dürren Mann mit verhärmten Zügen. Strähniges Haar, das vor der Zeit weiß geworden war, fiel ihm ins schmale Gesicht. Ob es der Wahrheit entsprach oder nicht: Dieses Bild hatte sich ihre Vorstellungskraft von jenem Gottfried Schmitter gemacht, von dem Debra am Nachmittag berichtet hatte und an dessen Gestalt sie sich nur noch vage vom Foto auf Palm Island erinnern konnte. Kein sonderlich angenehmer Zeitgenosse, wenn sie Debras Berichten Glauben schenken durfte. Nicht einmal wenn man die Zeiten und die Umgebung mit einbezog, in denen er lebte. Andererseits galt er wohl als begnadeter Theologe und Scholastiker, dessen Sonntagsschule über die Grenzen von Zionshill hinaus bekannt war und die selbst die gebildeten Städter aus Adelaide angezogen hatte. Die Reinheit der altlutherischen Lehre, der er sich verschrieben hatte, wurde in bestimmten akademischen Zirkeln sehr geschätzt, sagte Debra. Ein guter Diplomat war dieser Gottfried allerdings nicht. Ursprünglich gehörten die südaustralischen Gemeinden Neu Klemzig und Zionshill zusammen, bis sich Gottfried Schmitter mit dem Pastor aus Neu Klemzig unwiderruflich überworfen hätte. Worum es bei diesem Streit im Detail gegangen war, daran konnte sich Natascha nicht mehr genau erinnern. Es hatte irgendetwas mit Gottfrieds Missionsstation auf Zionshill zu tun und damit, dass er die andere Gemeinde für verweichlicht und verdorben hielt. Eine Zeitlang, so Debra, hätten die Neu Klemziger noch versucht, die Risse zwischen den beiden Gemeinden zu kitten, doch dann hatte sich Gottfried endgültig für die Spaltung entschieden. In der Folge hatte er so manches Schäfchen verloren, das sich lieber den angeblich so sittenlosen Neu Klemzigern anschloss, als sich dem Regiment des Kirchenälteren unterzuordnen. Doch im Grunde hatte Gottfried sein Ziel erreicht: Mit der Mission konnte er innerhalb weniger Jahre so viel Geld verdienen, dass er auf die ehemalige Bruder-Gemeinde nicht länger Rücksicht nehmen musste.
Diesen Punkt
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