Der geheimnisvolle Garten: Roman (German Edition)
verstand Natascha nicht. Wieso war seitens der Regierung überhaupt Geld an die Missionen geflossen? Debra hatte ihr bestätigt, dass Australien seit 1901, als das Land zur Konföderation geworden war, Kirche und Staat voneinander trennte. Insbesondere Südaustralien sei schon immer stolz auf sein freies Erbe. Die Kolonie um Adelaide hätte nur freie Siedler aufgenommen, keine Strafgefangenen.
Debra hatte geseufzt, als Natascha das Thema Regierungsgelder und Kirchenmissionen vertiefen wollte.
»Bestimmt haben Sie schon von den stolen generations gehört? Diese Mischlingskinder, die man ihren Eltern wegnahm, um sie auf einer Mission europäisch zu erziehen?« Natascha schüttelte überrascht den Kopf.
»Nein, darüber habe ich noch nie etwas gehört. Können Sie mir mehr erzählen?« Sie saß jetzt kerzengerade und schaute Debra gespannt an.
»Nun, damals haben wohl Regierung und Kirche an einem Strang gezogen, auch wenn die Beweggründe aus heutiger Sicht kaum mehr verständlich sind. Die meisten Verantwortlichen waren damals überzeugt, das Richtige zu tun, indem sie Eltern und Kinder für immer trennten. Insgesamt ein sehr, sehr trauriges Kapitel der australischen Geschichte«, sagte sie abschließend und atmete laut aus. »Am besten, Sie sprechen darüber mit jemandem, der sich in der Materie wirklich auskennt. Ich würde Ihnen ein indigenes Kulturzentrum oder eine ähnliche Einrichtung als erste Anlaufstelle empfehlen.«
Natascha war wie elektrisiert. Über die stolen generations musste sie unbedingt mehr erfahren. War ihre Großmutter eines der Opfer? Hatte man sie als kleines Mädchen tatsächlich ihren Eltern gestohlen? Der Gedanke wühlte Natascha auf. Sie griff nach dem Rucksack und nahm ihren Reiseführer heraus, in dem sie das Kinderbild ihrer Großmutter aufbewahrte. Natascha legte das Bild vor Debra auf den Tisch und tippte mit dem Finger auf das Mädchen zwischen den beiden Missionaren.
»Das ist sie, Maria, meine Großmutter.« Sie schaute Debra an. »Glauben Sie, es wäre möglich, dass man sie ihren Eltern weggenommen hat? Sie sieht doch gar nicht aus wie eine Aborigine.« Debra zuckte bedauernd mit den Schultern.
»Das kann ich Ihnen beim besten Willen nicht sagen, da müssten Sie sich, wie gesagt, an jemanden wenden, der sich in dieser Thematik auskennt.«
Die neuen Fragen, die Debra mit der Erwähnung der stolen generations aufgeworfen hatte, ließen Natascha auch in der Nacht nicht los, während sie sich schlaflos in ihrem Bett wälzte. Könnte es so gewesen sein? Hatte man die kleine Maria gestohlen? Mal angenommen, es war trotz Marias heller Haut so gewesen: Warum schickte man ein Kind nach Palm Island, also ausgerechnet auf eine Insel, die als Aufnahmeort für gewalttätige Männer berüchtigt war?
Natascha hoffte für ihre Großmutter, dass sie mit ihren Überlegungen vollkommen falschlag, denn sie wollte sich gar nicht erst ausmalen, was die kleine Maria andernfalls durchlitten hätte.
Natascha gab auf. Dann würde sie eben nicht schlafen. Ihre Hand tastete nach dem Lichtschalter. Sie stand auf und ging unschlüssig im Zimmer umher. Schließlich kniete sie sich vor die Minibar, suchte nach dem Gordon’s und mixte sich einen Gin Tonic. Auf die angetauten Eiswürfel verzichtete sie lieber. Den Drink in der Hand, schlenderte sie zum Fenster, öffnete die Blendjalousien und schaute aufs mondbeschienene Meer hinaus, das in gleichmäßigen Wellen auf dem weiten Strand auslief. Dank der alles übertönenden Klimaanlage fehlte der dazugehörige Sound von heranrollendem Wasser. Plötzlich fühlte Natascha wieder diesen Stich im Herzen. Regina. Wie so oft in letzter Zeit, wenn sie traurig war und an ihre Mutter dachte, wallte neben der Trauer auch Zorn in ihr auf.
Warum hast du mir nie etwas von den Briefen aus Australien erzählt, Mutter? War es dir nicht wichtig, oder hast du es nur vergessen? Oder wolltest du mir etwas verheimlichen? Aber was? Und wieso?
Vielleicht war es ja auch nur der Eigensinn ihrer Mutter. Regina hatte schon immer gerne die Dinge mit sich selbst ausgemacht. Die Dinge, dachte Natascha bitter. So wie das Ding in deinem Körper, das dich still und heimlich zerfressen hat. Wärst du nicht kurz vor Weihnachten im Einkaufszentrum neben mir zusammengeklappt, wer weiß, wann du mir davon erzählt hättest. Ob du mir überhaupt davon erzählt hättest. Davon, dass der Krebs den Kampf längst gewonnen hatte und du am Sterben warst. Davon, dass du lieber klammheimlich in
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