Der geheimnisvolle Garten: Roman (German Edition)
sein, dass sie sich vier Wochen freinahm. Doch diese Überlegungen konnten bis morgen warten.
Meena Creek, 8. März 1911
H elene saß auf der Bank unter ihrem Fenster, neben sich eine Tasse Tee. Auf dem Schoß hielt sie eine verbeulte Blechschüssel, deren hellblaue Emaille an einigen Stellen abgeplatzt war. Die Regenzeit ging ihrem Ende zu; es war zwar noch immer sehr warm, doch nicht mehr ganz so stickig wie im Februar. Das Atmen fiel allmählich wieder leichter, die Feuchtigkeit begann, sich aus der Luft zu verziehen. Die Vögel sangen, als gehöre ihnen der Garten. Nur manchmal übertönte ein breitschnäbeliger Kookaburra den Gesang der anderen mit seinem vorwitzigen Lachen. Ob Trocken- oder Regenzeit, irgendetwas blühte immer in den Tropen. Helene hatte in den letzten Jahren oft ungläubig den Kopf schütteln müssen, wenn sie wieder mal eine neue Blume entdeckt hatte, die in ihrer übertriebenen Üppigkeit um Aufmerksamkeit zu heischen schien. Doch Helene gestand sich nur zu gerne ein, dass ihr diese natürliche Prunksucht gefiel, sehr sogar. Die exotischen Namen konnte sie sich allerdings nur selten merken, ganz im Gegensatz zu Katharina: Die botanischen Kenntnisse der Schwester verblüfften sie immer wieder. Helene selbst scherte sich nicht besonders um all die lateinischen Bezeichnungen. Ihr Unwissen tat der Freude an dem sinnlichen Duft und dem Feuerwerk an Farben schließlich keinen Abbruch. Evodia – diesen einen Namen hatte sie sich allerdings gemerkt. Sie drehte den Kopf nach links, wo die Ableger, die sie vor vier Jahren gemeinsam mit Katharina gepflanzt hatte, zu recht respektablen Bäumen herangewachsen waren. Doch obwohl sie die korrekte Bezeichnung wusste, nannte sie sie meist nur »Schmetterlingsbäume«. Helene stellte die Schüssel mit den Erbsen zur Seite und betrachtete die blauen Schmetterlinge, die sich eifrig an den fedrigen Kugelblüten zu schaffen machten. Vor drei Wochen hatten die Zweige begonnen, sich mit dem mauvefarbenen Blütenkleid zu bedecken, und seither waren sie wieder da, ihre blauen Schmetterlinge.
Diese Stunde am Vormittag, in der sie draußen Vorbereitungen fürs Mittagessen traf, genoss sie mit den Jahren auf Rosehill ganz besonders. Es war so wunderbar still hier hinterm Haus, wenn die Kinder entweder in der Schule waren oder, wie ihre Tochter Nellie, die für die Schule noch zu jung war, sich am Vormittag im Wintercamp des Orta-Stammes aufhielten, das am Rande des Regenwaldes ungefähr auf halbem Wege zwischen Tanners Farm und Rosehill lag. Die Aborigine-Frauen suchten dort, außerhalb des Dschungels, hauptsächlich nach essbaren Wurzeln wie Yam oder nach den Körnern einer wildwachsenden Pflanze, die Weizen nicht unähnlich war und aus denen sie ihre Fladen buken.
Helene nahm einen Schluck Tee und lehnte ihren Kopf an die sonnenwarme Hauswand. Drinnen hörte sie das gedämpfte Klappern von Kochgeschirr und dazwischen immer wieder mal ein Lachen, das Katharinas Sohn Peter galt. Katharina. Wer hätte gedacht, dass ausgerechnet die entfremdete Schwester einmal zu ihrer Retterin werden würde?
Helene war noch ein Teenager gewesen, gerade erst sechzehn, als der Vater die sechs Jahre ältere Schwester vom Hof in Salkau jagte, weil sie sich in einen Katholiken verliebt hatte. Die Schwester so plötzlich zu verlieren war ein großer Schock gewesen, und es dauerte lange, ehe Helene wirklich begriff, dass Katharina nicht zurückkehren würde. Fortan musste sie ohne deren Rat auskommen und war ohne geschwisterliche Fürsprache, wenn die Eltern sie mal wieder beim Trödeln ertappten. Wie oft wohl hatte Katharina die kleine Schwester vor dem Zorn des Vaters geschützt, wenn er sie statt beim Melken mit der Katze spielend im Garten fand? Noch bevor Vater mit der Hand ausholte, stand Katharina vor ihr und log das Blaue vom Himmel herunter, bis er schließlich den erhobenen Arm sinken ließ und wütend davonstapfte. Helene lächelte, als sie jetzt an Katharinas Worte von damals dachte: »Das war das allerletzte Mal, dass ich für dich die Kohlen aus dem Feuer hole«, hatte sie böse gezischt und ihr den Zeigefinger gegen die Brust gedrückt. »Oder was glaubst du, wie viele Male ich den Eltern noch weismachen kann, ich hätte dich auf die Suche nach einem Eimer oder der Schöpfkelle geschickt?« Helene senkte den Kopf und gelobte Besserung. Katharina jedoch winkte nur ab. »Spar dir die Worte, es passiert ja doch wieder.« Schon am übernächsten Tag war die Schwester aus
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