Der geheimnisvolle Garten: Roman (German Edition)
sich, daran zu glauben. Helene presste die Lippen aufeinander. Zweifel beschlichen sie. Woher wusste der Reporter von ihrer Truhe? Und wenn schon, sagte sie sich, eine angespülte Kiste bewies noch gar nichts. Jedenfalls nicht, dass alle Passagiere umgekommen sind. Warum nur war sie die Einzige, die nicht gleich das Schlimmste annahm, die weiter hoffte? Katharina und ihre Familie lebten noch, bestimmt. Helene atmete durch. Wie konnte das alles nur passieren? Wann hatte es begonnen, dass ihr Glück sich in sein Gegenteil verkehrte? Ihr Leben in Australien, es hatte doch so hoffnungsfroh angefangen. Helene schloss die Augen. Dann kamen wieder die Erinnerungen.
Port Adelaide, Südaustralien, September 1902
H elene stand auf dem Dollbord der Ophir, einem imposanten Dampfer der britischen Orient Line, der sie in nur sechs Wochen von Southampton nach Australien gebracht hatte. Das heißt, noch waren sie nicht da, aber viel länger konnte es nun nicht mehr dauern.
Helene schaute verstohlen nach links und rechts, um dann rasch ihre Haube abzunehmen. Befreit schüttelte sie ihr Haar, warf den Kopf in den Nacken und lachte. Sie schloss die Augen und hob ihr Kinn. Die Sonne wärmte ihre rosigen Wangen. Sie war glücklich. Fast hätte sie vor Übermut die Haube in die Luft geworfen, aber dann hätte der Wind sie sicher nicht mehr hergeben wollen, und was würde Gottfried sagen, wenn sie ohne Haube von Bord gehen musste? Sie ahnte, dass sie den vom Vater eingesetzten Beschützer nicht unnötig verärgern dürfte; er würde ihr neues Leben ansonsten beträchtlich erschweren. Doch seit sie am Morgen Land gesichtet hatten, wollte ihre Brust vor Aufregung fast zerspringen. Sie konnte sich nicht erinnern, jemals so aufgewühlt, so erwartungsvoll gewesen zu sein.
Helene schaute wieder um sich, und da sie sich unbeobachtet wähnte, tat sie einen Luftsprung, warf ihre Arme in die Höhe und gab einen kleinen Freudenschrei von sich. Nicht zu laut, damit Gottfried sie nicht hören konnte, aber auch nicht zu leise, denn schließlich wollte ihre Brust vom Druck dieser Erregung erleichtert werden – ein klein wenig nur.
Helene tat einen Schritt zurück und hielt sich mit beiden Händen an der Reling fest, während sie aufs azurblaue Meer schaute. Der Kapitän hatte erklärt, dass die Farbe lediglich auf die Tiefe des Ozeans schließen ließ – je seichter die Gewässer, desto heller ihr Blau. Helene glaubte dem erfahrenen Seemann natürlich, doch sie wusste, dass diese nüchterne Erklärung nur ein Teil der Wahrheit war, denn Gott hatte die Welt nach seinem Willen erschaffen, und in seinem Reichtum hatte es ihm gefallen, mit den Farben verschwenderisch und großzügig zu sein. Delfine begleiteten das Schiff, schwammen seitlich vor dem Bug.
Auf dieser Seereise hatte Helene Bekanntschaft mit den herrlichsten und absonderlichsten Kreaturen gemacht. Da war nicht nur das Begrüßungskomitee der Großen Tümmler gewesen, sondern es gab auch Fische, die fliegen konnten! Das würde ihr in Salkau sicherlich niemand glauben. Und dann, eines Abends, kurz vor Sonnenuntergang, war das Unglaubliche geschehen: Helene und Gottfried hatten gerade ihren allabendlichen Deckspaziergang begonnen, als ein ungewohnter Laut sie aus ihren Gedanken aufschrecken ließ. Helene drehte sich nach dem Geräusch um und folgte den schnellen Schritten der anderen Passagiere, die es auch gehört hatten. Plötzlich tauchte vor ihnen mit einem Schnauben das wundersamste Wesen aus dem Wasser, das Helene jemals gesehen hatte: ein Wal! Es musste ein Wal sein, genau so hatte ihn der Kapitän beschrieben. Ein Wesen so groß wie ihr Schiff.
Sie war, wie die anderen Zuschauer auch, halb begeistert, halb verängstigt, als die Kreatur eine Wasserfontäne so hoch wie ein Haus aus einem Loch im Rücken spie. Die Damen kreischten, die Herren raunten, und man wich zurück, um nicht noch mehr durchnässt zu werden. Nur Helene war wie angewurzelt stehen geblieben. Vor lauter Staunen hatte sie kaum gemerkt, wie nass ihr Kleid bereits war. Erst als Gottfrieds Hand prüfend über ihre Schulter strich, spürte sie das Salzwasser auf der Haut. Zu Beginn der Reise hatte der Kapitän zwar einen äußerst interessanten Vortrag über die zu erwartenden Begegnungen und Erlebnisse während der bevorstehenden Überfahrt gehalten, doch was war schon seine Beschreibung im Vergleich zur eigenen Wahrnehmung?
Helene hatte sich jedenfalls bekreuzigt und ihrem Schöpfer für die Erschaffung dieses
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