Der geheimnisvolle Garten: Roman (German Edition)
wundervollen Wesens gedankt. Dann erst hatte sie bemerkt, dass sie ihr Kleid zum bevorstehenden Dinner wechseln musste, und hatte zögernd als eine der Letzten das Deck verlassen.
Auch jetzt bekreuzigte sie sich und lobte den Herrn, der sie hierhergeführt hatte. Zu einem anderen Kontinent, nach Neu Klemzig. So nannte sich die neue Gemeinde der ausgewanderten Lutheraner. Seit Annemarie, Helenes Freundin aus der Sonntagsschule, ihr vor einem Jahr heimlich einen Brief ihrer Tante zugesteckt hatte, konnte sie kaum an etwas anderes denken. Immer und immer wieder hatte Helene den Brief lesen müssen, bis Annemarie sie schließlich gebeten hatte, sie möge ihn ihr doch endlich zurückgeben. Helene hatte die Zeilen abgeschrieben und im Kopfkissenbezug versteckt. Jeden Abend nach dem Nachtgebet zog sie nun das gefaltete Papier hervor. Es machte nichts, dass das Licht meistens schon gelöscht worden war. Sie entfaltete dennoch die Seite und strich für gewöhnlich zärtlich mit dem Zeigefinger darüber. Längst kannte sie den Inhalt auswendig.
Liebste Annemarie, meine einzige Nichte!
Ich schreibe Dir, um von meinen wundervollen und gesegneten Erfahrungen in unserem Dorf Neu Klemzig zu berichten. Meine Liebe zu Gott war noch nie so groß, und noch nie war ich so glücklich. Du weißt, dass Gott mir immer wichtig war, doch nun fühle ich Ihn, als ob ich Ihn kennen würde. Er ist jetzt jeden Tag bei mir. Hoffentlich hältst Du meine Worte nicht für vermessen, doch ich fühle mich wie Hiob, der sagte: »Vom Hörensagen hatte ich von Dir gehört, aber nun hat mein Auge Dich gesehen.«
Früher, mit Euch allen in Salkau, wenn wir zusammen die Bibel studiert und gemeinsam gebetet haben, da habe ich von Ihm gehört, aber gekannt habe ich Ihn nicht. Und, glaube mir, liebste Nichte, selbst unsere Kirchenältesten haben Ihn nie wirklich gekannt, sondern nur über Ihn gelesen, sich nur nach Ihm verzehrt. Törichte alte Männer mit ihren Büchern und Vorschriften. Verzeih, ich will niemanden beleidigen, ich bin nur eine einfache Frau, die versucht, ihrem Herzen Ausdruck zu verleihen.
Die Person, die mir auf meiner Reise mehr als alle anderen geholfen hat, ist Johannes Peters, unser Pastor. Mit seinen sechsundzwanzig Lenzen ist er sicherlich noch sehr jung, doch glaube mir, liebe Annemarie, er ist gesegnet wie der junge Schäfer David, den Gott zum König salben lässt, weil er Gnade vor Seinen Augen gefunden hat. »Der Mensch sieht auf das, was vor Augen ist, der Herr aber sieht das Herz an.«
Oh, Annemarie, wir sind mit diesem Mann und seiner Familie mehr als gesegnet. Stets geht Johannes mit gutem Beispiel voran. Erst kürzlich vermochte er einen unglücklichen Mann, dem die Frau gestorben war und der in seiner Verzweiflung unsere kleine Herde verlassen wollte, sehr sanft zum Bleiben zu überreden. Dabei hatte sich dieser Mann unserem Pastor zuvor öffentlich widersetzt. Doch Johannes schenkte dem oberflächlichen Schein keine Beachtung und schaute dem armen Mann direkt in sein verletztes Herz. Er setzte sich zu dem Mann, und die beiden haben viele Stunden miteinander geredet. Am Ende war alles gut, der Mann bleibt nun bei uns, und Johannes hat ihm verziehen. Noch nie habe ich eine solche Führungsstärke, solch eine Ausstrahlung erlebt. Wir alle beten für seine junge Frau, da sie bislang noch keine eigene Familie haben gründen können.
Der Sommer hier kann glühend heiß werden, so dass der Weizen auf den Feldern verbrennt, weil nicht genug Wasser da ist. Dann drohen auch die gefürchteten Buschbrände, die alles, das sich ihnen in den Weg stellt, in ihren Flammen verzehren. Unser Alltag ist von harter Arbeit geprägt. Doch auch wenn das Leben in Neu Klemzig oft kein leichtes ist, fühle ich mich so selig, als wären wir hier in diesem fernen Land am Ende des Regenbogens angekommen.
Liebste Annemarie, ich wünschte, Deine Mutter ließe Dich gehen, und Du könntest es selbst sehen! Da ich aber um die Ängste und Sorgen meiner lieben Schwester weiß, will ich Dich oder andere in Salkau nicht zum Aufbruch drängen. Die Zeit wird kommen!
Für den Augenblick halte ich es für besser, wenn Du meinen Brief für Dich behältst und nicht der Mutter zeigst. Es würde sie nur unnötig erregen und sorgen.
In Liebe und Zuversicht,
Deine Tante Luise
Helene seufzte, doch nicht vor Sorge oder gar Kummer. Sie seufzte, weil ihr die Vorfreude die Brust zu sprengen drohte. Bald schon würde sie mit eigenen Augen sehen, wovon Annemaries Tante so
Weitere Kostenlose Bücher