Der geheimnisvolle Gentleman
rannte im Flur vor Olivias Schlafzimmer auf und ab. Ihre heiseren, gebrochenen Schmerzensschreie waren kaum durch die massive Tür gedrungen, doch jeder einzelne hatte ihn getroffen, als würde ein Schwert durch sein Herz gestoßen.
Er blieb stehen und lehnte die Stirn an das kühle Holz. Einen weiteren würde er nicht verkraften, dachte er, dann schalt er sich für seine Ich-Bezogenheit. Er war es schließlich nicht, dem das Messer ins Fleisch fuhr.
Auf einmal hörten die Schreie auf, was ihm noch größere Sorgen bereitete. Warum hatte sie aufgehört zu schreien? War der Doktor fertig? Oder war sie …?
Vor ihm öffnete sich die Tür. Der Arzt erschien. Er trug seinen Mantel, den Hut in der Hand und die Tasche über
der Schulter. Er war fertig und wollte gehen. »Die Kugel ist draußen, und ihre Gehirnerschütterung hat sich deutlich gebessert. Eure Lady wird wieder gesund«, sagte er heiter. »Es sei denn, das Fieber steigt und sie stirbt.«
Dane starrte den Mann an, der ihm knapp zunickte und an ihm vorbeiging. Ärzte lebten auf einem anderen Stern, so schien es. Sie waren sich ihrer Notwendigkeit sehr bewusst und zollten dem Adel nur selten den gebotenen Respekt.
Dann erst verstand Dane, was der Mann gesagt hatte. Olivia würde wieder gesund werden.
Fieber.
Angst erfüllte ihn. Er rannte durch den Salon und durch die Tür zu Olivias Schlafzimmer.
30. Kapitel
L ady Reardon wusch Olivia den Schweiß von ihrem blassen Gesicht. »Pst!«, befahl sie, ohne sich umzudrehen. »Sie hat endlich das Bewusstsein verloren. Dieser verdammte Stümper!« Ihre Stimme klang angespannt. »Ich fürchtete schon, er würde es niemals schaffen!«
»Was ist mit dem Fieber?«
Lady Reardon schüttelte den Kopf. »Sie ist sehr stark, das hatte ich gar nicht erwartet. Sie fiebert ein bisschen, aber das wird wieder vergehen, da die Kugel entfernt wurde.«
Dane ließ sich auf den Stuhl fallen, der auf der anderen Seite des Bettes stand. »Gott sei Dank!«
Lady Reardon warf ihm einen ungläubigen Blick zu. »Nathaniel hat mir gesagt, dass Ihr ihre Eltern noch immer eingesperrt habt und ihnen nicht erlaubt, sie zu besuchen.«
Dane ließ sich nicht einschüchtern. »Lord und Lady Cheltenham standen auf der Gehaltsliste eines sehr gefährlichen französischen Spions.«
»Der sie dazu gezwungen hat.« Willa legte das feuchte Tuch beiseite und steckte die Bettdecke fester um Olivias Körper. »Wart Ihr nie von der Gnade eines anderen abhängig, Mylord?«
Ich liebe dich, du unglaubliches Arschloch. Ich wollte immer nur deine Frau sein.
»Ein Mal«, sagte Dane mit dünner Stimme. »Nur ein einziges Mal.« Lady Reardon stand auf. »Ich denke, wir können sie beruhigt schlafen lassen«, sagte sie. »Ich werde nach jemand schicken lassen, um nach ihr zu sehen.«
»Ich bleibe hier«, sage Dane leise.
»Nur wenn Ihr schwört, dass Ihr sie nicht fesselt oder festnehmt oder irgendetwas ähnlich Lächerliches anstellt.«
Dane blickte sie an. »Nicht heute Nacht.«
Lady Reardon warf ihm einen herablassenden Blick zu. »Ich mag Euch nicht, Lord Greenleigh. Nathaniel hält mich natürlich für eine Idiotin. Es ist unsere erste echte Meinungsverschiedenheit. Ich halte Euch für einen sturen Dickschädel. Er glaubt, dass Ihr nur Eure Pflicht tut.« Sie wandte sich um, um hinauszugehen. An der Tür blieb sie stehen. »Ich möchte Euch eine Frage stellen.«
Dane drehte sich nicht um. Olivia sah so blass aus. »Und welche?«
»Warum habt Ihr überhaupt geheiratet, wenn Ihr niemals einer Frau trauen wollt?«
Dane schüttelte den Kopf. »Gute Nacht, Lady Reardon.«
Sie ging, und es wurde still. Dane rückte seinen Stuhl näher ans Bett und griff nach einer Strähne von Olivias Haaren, die an ihrer feuchten Wange klebte.
»Deine Haare sind immer so unordentlich«, flüsterte er ihr zu. Er ließ die seidenweiche Strähne zwischen seine Finger gleiten und legte sie dann aufs Kopfkissen zurück. »Ich träume von deinem Haar.«
Der Arzt hatte ihre Hände neu bandagiert. Vorsichtig nahm Dane eine davon hoch und führte sie an seine Lippen. »Was soll ich nur mit dir machen, Olivia?«, sagte er sanft. »Deinetwegen kann ich verstehen, warum mein Vater tat, was er getan hat.« Er atmete stoßweise aus und schloss die Augen. »Ich habe dir nie von meinem Vater erzählt, nicht wahr? Nein, natürlich nicht. Ich habe dir ja überhaupt nichts erzählt.«
Müde lehnte er sich auf seinem Stuhl zurück, wobei er ihre bandagierte Hand zärtlich in seiner
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