Der geheimnisvolle Gentleman
hielt. »Du musst verstehen, dass er ein sehr fordernder Mann war, aber ich war stolz darauf. Ich hatte das Gefühl, dass seine hohen Erwartungen ein Zeichen seiner inneren Überlegenheit und seiner Moral waren. Wenn ich in der Lage war, ihm zu gefallen, wusste ich, dass ich besser gewesen war als ›gut genug‹ und auch besser als
›ziemlich gut‹. Ich wusste, ich hatte ein wenig mehr erreicht, als er von mir erwartet hatte, und damit eine Stufe, die an Perfektion grenzte.«
Dane seufzte, als er sich erinnerte. »Doch auch er war nur ein Mensch.« Mit all seinen Schwächen. Die Szene im Studierzimmer stand ihm in aller Deutlichkeit vor Augen. »Ich war so stolz darauf, der zu sein, der ich war, so verdammt sicher, alles zu wissen. Ich verachtete ihn, klagte ihn an, sagte mich von ihm los. Ich hatte keinen Tropfen Mitleid oder Mitgefühl für ihn übrig. Ich ernannte mich selbst zum Richter, Geschworenen und Henker.«
Sie sagte nichts dazu, wie auch? Dane konnte sich sehr gut vorstellen, was Olivia ihm sagen würde, nämlich dasselbe, das auch Marcus gesagt hatte.
Der Selbstmord war die Entscheidung deines Vaters.
Dane schüttelte angesichts dieser Tatsache den Kopf. »Selbstmord war die einzige Option, die ich ihm gelassen hatte. Ich war so wütend, fühlte mich betrogen. Ich habe ihm gesagt, ich hätte dem Premierminister einen Brief geschrieben, in dem ich ihn über alles informiert hätte. Das stimmte nicht.«
Er rieb sich mit der freien Hand übers Gesicht, versuchte die Müdigkeit fortzuwischen und diese verräterische Flüssigkeit, die aus seinen geschlossenen Lidern quoll. »Ich hatte ihm einen Brief geschrieben. Aber er lag noch auf meinem Schreibtisch. Ich konnte mich nicht dazu aufraffen, ihn aufzugeben. Ich wollte ihm wehtun, ihn schlagen, ihn erschüttern, wie er mich erschüttert hatte.«
Alter Zorn brach in ihm auf. »Er hätte die ganze Sache durchstehen können. Er hätte die Konsequenzen auf sich nehmen und seine Strafe verbüßen können.« Dane schnaubte. »Na ja, seine Strafe wäre wahrscheinlich der Strang gewesen. Er hatte ihr wichtige Informationen gegeben, wir haben deshalb Schlachten verloren, Männer sind gestorben. Vielleicht hat er es auch nicht meinetwegen getan. Wahrscheinlich
konnte er sich selbst einfach nicht mehr ins Gesicht sehen.« Er öffnete die Augen und schaute seine schlafende Frau an. »Oder er konnte nicht ohne sie leben. Sie war verschwunden, war zweifellos nach Frankreich geflohen. Er liebte sie. Er liebte sie mehr als alles andere. Mehr als sein Land, mehr als seine Pflicht, sogar mehr als …«
Sogar mehr als mich.
Dane stand abrupt auf. »Das ist einfach lächerlich«, murmelte er vor sich hin. »Im Dunkeln zu sitzen und mit jemandem zu sprechen, der einen nicht hört.« Er drehte sich um und wollte aus dem Zimmer gehen. Er würde jemand anderen beauftragen, die Krankenwache zu übernehmen.
Ein Papierfetzen knisterte unter seiner Schuhsohle. Automatisch bückte er sich, hob ihn auf und ging weiter. Es gab schließlich wichtige Dinge, um die er sich kümmern musste. Er verließ das Zimmer und zog die Tür hinter sich zu.
Vom Bett aus betrachtete ihn seine Frau mit weit aufgerissenen Augen.
Er war schon in der Bibliothek, bevor ihm der Papierfetzen in seiner Hand wieder einfiel. Er faltete ihn auseinander und betrachtete ihn gleichgültig. Es war ein Stückchen von einem Blatt, eine Ecke, die abgerissen worden war, bedeckt mit winzigen Buchstaben.
Mit gerunzelter Stirn trat er näher an die Kerzen.
Nur drei Zeilen waren zu entziffern.
… damit er mich nicht verlässt, wenn er die Wahrheit herausfindet?
Könnte ich ihn dann so weit bringen, dass er mich liebt?
Ah, triumphierte die misstrauische Stimme in seinem Innern. Ich wusste es ja.
Dane starrte auf den Papierfetzen in seiner Hand, zwang sich, der Wahrheit ins Gesicht zu sehen.
Sie war nicht das Opfer ihrer Eltern. Sie hatte es die ganze Zeit gewusst.
Aber es machte ihm nichts aus. Er wollte sie trotzdem.
Furcht, dunkle Furcht drohte ihn zu ersticken. Er wollte sie trotzdem.
Seine Gefühle durchjagten seinen Körper in wahnsinniger Geschwindigkeit, zerrissen ihn schier und bereiteten ihm die allergrößten Seelenqualen. Sie würde wieder gesund werden. Sie war Teil der Verschwörung. Sie hatte ihm Leidenschaft geschenkt. Sie hatte gesagt, dass sie ihn liebte. Sie hatte ihn manipuliert, damit er sie liebte. Sie hatte versucht, Sumner aufzuhalten. Er hatte sie da draußen gelassen, allein
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